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Sind wir zu alt für Harry Potter?

  • Autorenbild: Franzi C
    Franzi C
  • 9. Mai 2024
  • 10 Min. Lesezeit

Info: Dies ist ein Text von einem Harry Potter-Fan für Harry Potter-Fans. Ich werde Nerd-Begriffe benutzen, als würden sie zum Allgemeinwissen gehören und Handlungsstränge spoilern (wenn man bei Filmen, die mindestens 13 Jahre alt sind, überhaupt von Spoilern reden kann).


Das Interview von Miriam Margolyes ging viral. Die Schauspielerin von Professor Sprout aus den ersten beiden Teilen der Harry Potter-Filmreihe (folgend als HP abgekürzt) berichtete davon, dass sie auch heute, 23 Jahre nach erscheinen des ersten Films, immer noch mit dem Thema konfrontiert wird und Fans sie ansprechen. Im Detail sagte sie:


I’m worried about HP Fans, because they should be over it by now. I mean, it was 25 years ago and it’s for children. […] But they get stuck in it and I do Cameos and people say „We are having a HP themed wedding.“ And I think ‚Gosh what’s their first night of fun going to be?‘ HP is wonderful and I’m very grateful to it. It’s over. That’s what I think.


Auf Deutsch würde das Zitat ungefähr so klingen:


Ich bin besorgt um die HP-Fans. Sie sollten schon längst damit abgeschlossen haben. Ich meine, es ist 25 Jahre her und es ist eigentlich für Kinder. […] Aber sie scheinen da nicht mehr rauszukommen. Ich drehe Grußvideos für Fans und einige wollen ein Video für ihre Hochzeit im HP-Stil. Ich denke mir da nur ‚Meine Güte, wie wird das wohl sein, wenn sie das erste Mal in ihrem Leben Spaß haben werden?‘ HP ist toll und ich bin sehr dankbar für diese Filme. Aber es it vorbei. Das ist meine Meinung.


Als sie mit den empörten Reaktionen der Fans konfrontiert wurde, berichtet sie, dass sie die Kritik nicht interessiert und sie weder die Filme gesehen noch die Bücher gelesen hätte.


Ich habe überlegt, wie ich darauf reagieren soll. Am einfachsten wäre es natürlich, zu schreiben, dass ihre Kritik an den Fans einen schalen Beigeschmack hat, wenn man bedenkt, dass auch sie 23 Jahre später immer noch von der Filmreihe profitiert. Schließlich gibt sie zu diesem Thema Interviews und Menschen bezahlen ihr sogar Geld dafür, dass sie ein kurzes, auf HP bezogenes Video für sie dreht. Es ist auch mehr als seltsam, dass sie behauptet, es sein Kinderfilme, wenn sie keinen einzigen der späteren Filme je gesehen hat. Ihre ganze Kritik wirkt im ersten Moment (und ehrlicherweise auch im zweiten) heuchlerisch und deplatziert, aber der Sinn dieses Textes soll nicht sein, Miriam Margolyes in ein schlechtes Licht zu rücken. Als Hufflepuff ist so ein Verhalten ohnehin nicht mein Stil. Ich möchte weg von ihr als Person und hin zur Frage, ob wir wirklich langsam zu alt sind für HP und was es über uns aussagt, wenn wir selbst am schönsten Tag unseres Lebens nicht auf HP verzichten können.


Zunächst einmal das Offensichtliche: Wir Millenials sind mit Harry zusammen erwachsen geworden und viele haben erst durch die Bücher angefangen, zu lesen. Diese Erklärung haben wir alle so oder so ähnlich schon mal gelesen oder gehört. Die stimmt auch, aber ich glaube, dass der Grund dafür, dass HP uns für immer — um nicht zu sagen: ‚Always‘ — begleiten wird, viel tiefer liegt. Um der Sache auf den Grund gehen zu können, habe mir während des Schreibens viele Fragen gestellt. Warum gucke ich die Filme immer noch? Warum bin ich stolz darauf, ein Hufflepuff zu sein? Warum habe ich in meiner Wohnung ein Schild über der Toilette, auf dem ‚This way to Ministry of Magic‘ steht? Und warum tun mir Menschen wie Miriam Margolyes eigentlich leid?


Meine erste Begegnung mit HP hatte ich während eines Ausflugs mit der Schule. Ich war in der dritten Klasse und wir sind in den Nachbarort gefahren, um dort im Kino Harry Potter und der Stein der Weisen zu sehen. Mir gefiel der Film, also schaute ich im Jahr darauf auch den zweiten Teil. Ich fand mich in ihnen wieder. Harrys und mein Leben ähnelte sich. Wir beide wuchsen in einem Haus auf, in dem wir nicht willkommen waren. Wir beide haben es bis zur Perfektion beherrscht, uns unsichtbar zu machen und zuhause nicht negativ aufzufallen. Wir beide waren anders. Uns war klar, dass wir da, wo wir wohnten, nicht hingehören. Der Unterschied war nur, dass Harry mit elf Jahren fliehen konnte. Er kam nach Hogwarts, wo er die meiste Zeit des Jahres verbrachte und Menschen um sich herum hatte, die ihm gut taten. Ich hatte diese Option nicht — zumindest nicht in dem Alter. Bei mir ist niemand mitten in der Nacht eingebrochen und hat mir den Zulassungsbrief für Hogwarts gegeben. Gerüchten zufolge bin ich da auch kein Einzelfall. Aber das ist ein anderes Problem und gehört nicht hierher.


Durch die Filme hatte ich immerhin die Möglichkeit, Harry mental zu begleiten. Auch wenn ich mich in der Nähe meiner Mutter nur wie auf Eierschalen bewegen konnte und mit den Jahren meine gesamten kindlichen Eigenheiten einbüßte, meine Fantasie konnte mir niemand nehmen. Jedes Mal, wenn ich den Film sah, fuhr ich auch nach Hogwarts, aß das üppige Festmahl und schlief in dem gemütlichen Schlafsaal. Durch Harry war ich nicht mehr so allein und fühlte mich, als würde ich irgendwo dazu gehören. Die Filme füllten mich mit Glück, was es für mich einfacher machte, die Dementoren aus meinem eigenen Leben fernzuhalten.


Die Vergangenheit und die Fehler meiner Eltern verfolgen mich bis heute. So wie ein Teil von Lord Voldemort in Harry wohnt, so begleitet mich auch ein Teil meiner Eltern. Die Psychologie nennt diese Anteile Introjektionen. Das sind (negative) Glaubenssätze, die uns Bezugspersonen so lange erzählen bis wir sie selbst glauben. Und die können sehr destruktiv sein. In besonders dunklen Momenten ist es mir ziemlich schwer gefallen, diese fremden Anteile von meinen eigenen zu unterscheiden. Doch wie Albus Dumbledore in Harry Potter und der Orden des Phönix schon sagte: „Es kommt nicht darauf an, worin ihr euch ähnelt, sondern worin ihr euch unterscheidet.“ Und je älter ich wurde, desto mehr wurde mir bewusst, wie viel Wahrheit in dem Satz steckt. Harry war nicht wie Voldemort und ich war nicht wie meine Eltern. Denn ich war ein Hufflepuff. Ich war und bin auch immer noch aufrichtig, loyal, geduldig, unnachgiebig und optimistisch. Mit diesen Eigenschaften könnte ich mich kaum mehr von meinen Eltern unterscheiden. Das Schöne ist, dass in Hogwarts alle Charaktere akzeptiert werden. Mehr noch, sie werden zu einem Haus zugewiesen, damit sie in Gesellschaft von Menschen sind, die so sind wie sie. Sie sind nicht mehr allein, sondern unter Gleichgesinnten. Sie bekommen auch eigene Umhänge und Schals in den Häuserfarben (in meinem Fall gelb und schwarz). Wie bei einem Lieblingssportverein, kann man so den eigenen Charakter mit Stolz der Welt präsentieren. Mir fällt keine andere Geschichte ein, in der der Charakter so hervorgehoben und gefeiert wird wie in der Zauberwelt. Und auch wenn mir gelbe Klamotten nicht so gut stehen, bin ich froh, zu diesem Haus zu gehören. Wenn man sich als Kind ständig an die Umgebung anpassen muss, kann man als Erwachsene schnell mal vergessen, wer man eigentlich ist. Meine Zugehörigkeit zu Hufflepuff hat es mir einfacher gemacht, mich daran zu erinnern, was mich ausmacht und was mir wichtig ist. Und so bekämpfte ich am Ende zwar nicht Lord Voldemort, aber immerhin meine Mutter.


Ein großes Thema in den HP-Filmen/-Büchern ist Toleranz gegenüber anderen. Es geht darum, andere zu akzeptieren, unabhängig davon, ob sie zum selben Haus gehören, welche Herkunft sie haben (reinblütig, halbblütig, mugglestämmig, Squib oder Muggle) und auch unabhängig davon, ob sie Menschen, Kobolde, Elfen oder Zentauren sind. Das Ziel der Protagonist:innen ist von Anfang an, veraltete Grenzen und Vorurteile abzubauen und als Gemeinschaft für das Gute zu kämpfen. Denn am Ende sind die Gemeinsamkeiten oft größer als die Unterschiede.


Ein weiteres Thema, auf das die Autorin meiner Meinung nach viel Wert gelegt hat, ist das Entwickeln einer Ambiguitätstoleranz — ein weiteres Wort aus der Psychologie. Es beschreibt das Aushalten von (scheinbaren) Widersprüchen und das Zulassen von Graustufen in einer Welt, die die Dinge nur zu gerne in schwarz/weiß einteilt. Ein Beispiel gefällig? Gerne. Direkt am Anfang der Geschichte lernen wir Draco Malfoy kennen, der Harry bei jeder Gelegenheit ärgert. Später lernen wir seinen Vater kennen und merken, dass der noch viel schlimmer und Draco das unterdrückte Opfer in der Vater-Sohn-Beziehung ist. Wenn er mit seinem Vater zusammen auftritt, haben wir Mitleid. Aber wenn Draco Harry oder die anderen mal wieder beleidigt, sind wir wütend auf ihn, denn in dieser Konstellation ist er der Täter. Intuitiv scheinen sich diese Meinungen und Gefühle gegenseitig auszuschließen, aber das stimmt nicht. Er ist ist einfach beides: Manchmal gut, manchmal böse. Gegen Ende der Geschichte reflektiert er sich und kämpft gegen seine erlernten Verhaltensmuster und Denkweisen an. Diese und ähnliche Entwicklungen sehen wir so immer wieder bei den verschiedensten Figuren. Sei es bei Harry, der, wie oben schon beschrieben, gegen seine ‚bösen‘ Anteile kämpft, oder Dumbledore, deren dunkle Vergangenheit sich im Laufe der Reihe wie ein Schatten über sein gutes Bild wirft. Auf die Spitze wird diese Art der Ambiguität bei Severus Snape getrieben. Bei ihm sind sich die Fans bis heute nicht einig, in welche Schublade er gehört. Er kommt aus einem gewalttätigen Elternhaus und wurde während seiner Schulzeit gemobbt. Als junger Erwachsener wird er zum Todesser. Als jedoch eine von ihm geliebte Person durch ihn in Gefahr gerät, bereut er seine Fehler und hört auf, für die Todesser zu arbeiten. Als Erwachsener macht er allen Nicht-Slytherin-Schüler:innen das Leben schwer, setzt jedoch gleichzeitig sein Leben für sie aufs Spiel, in dem er als Doppelagent unterwegs ist. Gehört er also zu den Guten oder den Bösen? Die Antwort ist so einfach wie langweilig: Er ist beides. Als Opfer von Mobbing und Gewalt hat er zurecht unser Mitleid. Als Todesser war er aber für viele schlimme Taten mitverantwortlich, die wir ihm nie verzeihen können und sollten. Dadurch dass er die schlimmen Konsequenzen seines Handelns (Lilys Tod) trägt und seine Fehlentscheidungen (Todesser zu sein) einsieht und ehrlich bereut, beweist er wiederum eine innere Größe, die nicht viele Menschen besitzen. Obwohl es uns schwer fällt, diese Größe zu sehen, wenn er als Erwachsener ohne erkennbaren Grund Kinder beleidigt. Als Doppelagent, der schließlich sogar für das Gute stirbt, hat er unseren Respekt und unsere Dankbarkeit verdient. Und auch hier gilt: All diese Gedanken und Gefühle können gleichzeitig existieren, denn sie sind menschlich. Wir alle widersprechen uns und machen Fehler. Diese Fehler machen aber nicht automatisch unsere guten Eigenschaften zunichte. Im Gegenteil, sie ergänzen sie. Sie machen uns zu Menschen. Oft hilft uns die Geschichte eines Menschen, seine Fehler besser zu verstehen. Wenn man nur lange genug sucht, kann man so selbst bei der gemeinsten Person noch etwas liebenswürdiges entdecken. Außer natürlich bei Umbridge.


Bei HP geht also darum, dass wir unsere Unterschiede und Fehler verstehen und sie bei uns und bei anderen akzeptieren sollten. Diese Einstellung wird bei HP nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt, denn am Ende verzeiht Harry nicht nur Draco, sondern auch Snape. Kein Wunder also, wenn sich so viele in der Geschichte wiederfinden und sich in der Welt geborgen fühlen. Ich glaube, dass diese zwei Komponenten (Toleranz und Ambiguitätstoleranz) einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass wir der Zauberwelt bis heute treu sind und immer wieder gerne zu ihr zurück kehren.


Darüber hinaus sind es auch einfach sehr gute Filme. So wie die Leute auch immer noch Pretty Woman und Rocky gucken, weil es gute Filme sind, gucken wir eben noch die HP-Filme. Und da sich der Filmstil im Laufe der Reihe verändert, passen sie auch zu unterschiedlichen Situationen und Gefühlslagen. Das alles weiß natürlich Miriam Margolyes nicht, denn sie hat sich außerhalb der von ihr gesprochenen Zeilen nicht mit der Geschichte beschäftigt. Die ersten beiden Filme, in denen sie auch mitspielte, sind tatsächlich ziemlich kindlich. Ich gucke sie hauptsächlich, wenn mir die Welt mal wieder zu anstrengend wird oder wenn einfach nur Weihnachten ist. In den Filmen ist die Welt noch in Ordnung, die Guten überleben alle und die Bösen werden enttarnt und aus dem Weg geschafft. Den dritten Film mögen viele, weil da jede Person etwas Schönes bekommt. Harry bekommt einen liebevollen Verwandten, Lupin bekommt einen alten Freund zurück, Hermine bekommt endlich einen Stundenplan, der sie voll auslastet, Hogwarts bekommt einen guten Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste und Draco bekommt endlich Eins in die Fresse. Ich gucke den Film vor allem, wenn es mir nicht gut geht und ich möchte, dass Lupin mich mit seinen empatischen Worten und einem Stück Schokolade tröstet. Der vierte und fünfte Film zeigt uns, wie groß die magische Welt ist und dass selbst eine Telefonzelle magisch sein kann. Wir verlassen unsere beschützte Umgebung in Hogwarts und werden langsam erwachsen. Wir erahnen, dass vielleicht nicht alles so ist, wie es scheint. Die Charaktere werden komplexer. Zudem zeigen uns die finalen Kampfszenen auf visuelle beeindruckende Weise, dass man mit Zauberstäben mehr machen kann, als nur Türen zu öffnen und Federn fliegen zu lassen. Durch die wohlformulierten Weisheiten von Dumbledore und Sirius, helfen mir diese Filme, mich daran zu erinnern, dass ich mich meine Eigenheiten nicht weniger liebenswürdig machen und dass Liebe in den verschiedensten Formen mein Leben bereichert und mich stärker macht. Die letzten drei Filme sind sehr erwachsen. Wir lernen, dass selbst große Charaktere wie Dumbledore, Snape und Voldemort eine Vergangenheit haben, die es uns schwerer macht, sie klar in die Kategorien gut oder böse einzuordnen. Die Komplexität der Charaktere macht es für uns allerdings einfacher, ihre Verhaltensweisen zu verstehen. Wir müssen aber auch Abschied von vielen lieb gewonnenen Menschen nehmen. Dadurch lernen wir, dass es manchmal nötig ist, Abschied zu nehmen oder Niederlagen einzustecken, um unserem Ziel näher kommen zu können. Und was noch viel wichtiger ist: Wir lernen, dass uns Niederlagen nicht davon abhalten sollten, das zu tun, was für uns richtig ist.


Als Erwachsene kann ich mich natürlich nicht ständig in dieser magischen Welt aufhalten, da ich ja auch noch ein Leben habe. Ich habe auch nicht immer Zeit, die Bücher zu lesen oder die langen Filme zu sehen. Deswegen finde ich es schön, in meiner Wohnung überall kleine Fanartikel zu haben — sei es in Form einer Tasse oder eines Schildes über der Toilette. Sie zaubern mir für einen kleinen Moment ein Lächeln ins Gesicht. Denn all die guten Erinnerungen, die ich mit HP verbinde, kann mir niemand nehmen. Ich werde immer ein stolzer Hufflepuff bleiben. Und ich verstehe jede Person, die ihre Geburtstagsfeier oder Hochzeit mit einem HP-Thema noch schöner machen möchte. Harry ist eben wie ein lieb gewonnener Bruder, den man natürlich auch am schönsten Tag des Lebens dabei haben möchte. Was ich hingegen nicht verstehe, sind Menschen wie Miriam Margoyles, die anderen diese schönen Momente nehmen wollen, nur weil sie es nicht verstehen. Ich verstehe auch nicht, warum sich regelmäßig tausende Menschen im Stadion treffen und gemeinsam ein Fußballspiel sehen. Aber ich kritisiere sie auch nicht dafür. Ich finde es toll, wenn man etwas hat, was einem Freude bringt und den Tag verschönert. Wir haben unser inneres Kind eben noch nicht verloren und geben ihm ab und zu etwas zum Spielen. Ich weiß, es ist nur eine fiktive Welt, aber das heißt nicht, dass sie für uns nicht weniger real ist. Menschen, die so etwas nicht haben, tun mir einfach nur leid. Erwachsen sein müssen wir schließlich oft genug.

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