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Zwei fremde Welten - Meine Erfahrungen als Arbeiterkind

  • Autorenbild: Franzi C
    Franzi C
  • 18. Apr. 2024
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 25. Apr. 2024

Nach dem Abi ist es so weit. Ich ziehe vom ländlichen Brandenburg in das große Berlin, um etwas zu studieren, was niemand aussprechen kann. Ich verlasse das Kleinstadtleben. Ich tausche eine Welt, in die ich nicht rein gehöre ein gegen eine andere, in der Hoffnung, dass sie genauso anders ist wie ich.

Ich bin die Erste in meiner Familie, die studiert. Erst Jahre später erfahre ich, dass es für Leute wie mich einen Begriff gibt. Wir sind Arbeiterkinder, Nicht-Akademiker-Kinder oder auch First Generation Students. Aber vor allem sind wir ahnungslos und allein — zumindest fühlt es sich so an.


Die Uni beginnt und nach den ersten Seminaren denke ich: Ich gehöre hier nicht hin. Die anderen reden anders als ich. Sie haben keinen Dialekt, der sie klingen lässt wie Cindy aus Marzahn, und sie scheinen keine Fragezeichen im Kopf zu haben, wenn die Dozent:innen mal wieder ein schlaues Wort benutzen. Überhaupt verhalten sich alle, als wären sie schon ewig hier. Ich komme mir dumm vor, weil ich optional statt fakultativ sage. Ich war nicht auf dem Gymnasium und habe auch noch nie eine Bibliothek von innen gesehen. Ich bereite mich also mental darauf vor, zu scheitern.


Zu meiner eigenen Überraschung sollte das aber nie passieren. Ich verstand irgendwann alles, was die Dozent:innen sagten. Ich ging in Bibliotheken ein und aus und nahm das Wort fakultativ in meinem Wortschatz auf. Ein Dozent, den ich offenbar beeindruckt hatte, bot mir eine Stelle in seinem Forschungsprojekt an. Ich fing an, englische Fachartikel zu lesen, ging zu wissenschaftlichen Vorträgen und hielt irgendwann selbst welche. Das alles machte ich vor allem, weil ich mit den anderen mithalten wollte. Ich wollte mir und den anderen beweisen, dass ich doch in die Uni gehöre. In meinem Kopf begleitete mich dabei immer die Angst, dass das, was ich sagen will, nicht so schlau ist, wie ich denke. Mein Dialekt, meine große Klappe und die Tatsache, dass ich regelmäßig das Wort Scheiße benutze, sorgen dafür, dass ich auffalle. Allen ist klar, dass ich anders bin.


Am Wochenende fahr ich nach Hause. Dort weiß niemand, was ich da eigentlich in Berlin mache. Mein Opa fragt mich ständig, was ich mit meinem Abschluss machen kann, außer Taxi fahren. Meine Oma will eigentlich nur wissen, ob ich nach dem Studium wieder zurück in meine Heimat ziehe. Ich werde nicht mehr verstanden, weil mir gelegentlich englische Worte rausrutschen und weil ich fakultativ statt optional sage.

Es ist verrückt. Es sind zwei völlig verschiedene Welten, zwischen denen ich jede Woche hin und her fahre. Und doch fühle ich mich keiner davon wirklich zugehörig. Es ist jedes Mal wie dieser Moment, wenn man im Hochsommer von einem klimatisierten Raum nach draußen in die Sonne geht. Man kriegt einen gut temperierten Schlag ins Gesicht, der einen daran erinnern soll, dass man jetzt wieder woanders ist und hier ein anderer Wind weht.


Erst nach einigen Jahren merke ich, dass ein Teil der Probleme ‚nur‘ in meinem Kopf existiert haben. Von mehreren Menschen habe ich über die Jahre die Rückmeldung bekommen, dass sie mich für intelligent halten. Meine Noten haben diesen Eindruck ebenso widergespiegelt. Dafür hätte es kein exzessives Artikel lesen oder Vorträge besuchen gebraucht. Aber Feedback, das nicht ins Selbstbild passt, habe ich eben relativiert oder sogar ganz ausgeblendet. Irgendwann merkte ich auch, dass die anderen gar nicht schlauer waren als ich. Ich war auch nur noch selten in Bibliotheken, weil die spannendsten Artikel sowieso auf der Verlagsseite online bereitgestellt wurden. Ich sagte wieder optional, weil ich das Wort fakultativ sowieso nie wirklich mochte. Kurzum: Ich fand meinen eigenen Weg. Und der lag irgendwo zwischen Brandenburg und Berlin. Das Schönste war, dass mich die ganze Zeit Menschen begleiteten, die ebenfalls ihren eigenen Weg gingen. Ich war also gar nicht so allein, wie ich anfangs dachte.

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