Mein dreckiges Geschirr
- Franzi C
- 21. Nov.
- 5 Min. Lesezeit
Das mit unseren Emotionen ist immer so eine Sache. Manchmal fühlen wir sie sehr stark und ein anderes Mal sind sie kaum spürbar. In einigen Situationen fühlen wir 17 Gefühle gleichzeitig und in anderen nur ein einziges oder sogar gar keins. All das ist normal. Aber wie ihr ja wisst, ist der Blog ja nicht nur dazu da, um über normale Dinge zu schreiben, sondern auch, um über extreme, vielleicht nicht so gesunde Dinge zu schreiben. In diesem Fall darüber, wie es ist, nichts mehr zu fühlen - und zwar für eine sehr lange Zeit.
Wir reden hier von über 20 Jahren, in denen ich nicht wirklich etwas gefühlt habe. Ich kann nicht genau verorten, wann es angefangen hat, weil ich kaum noch Erinnerungen an meine Kindheit habe, aber wir bewegen uns irgendwo zwischen 20 und 28 Jahren. So oder so ist es eine lange Zeit. Viel zu lang.
Sowas passiert auch nicht einfach so. Das war eine Entscheidung, die ich mehr oder weniger bewusst getroffen habe und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Bis es mein neues Normal, meine neue Werkseinstellung, meine Null-Linie wurde.
Sowas passiert, weil die Erwachsenen um mich herum dafür sorgten, dass es mir permanent schlecht ging und mich dann mit all meinen Emotionen allein ließen. Sowas passiert, wenn die Erwachsenen schon damit überfordert waren, dass ich mir beim Spielen das Knie aufgeschlagen und dann geweint habe. Denn wenn ich das als Kind von Erwachsenen nicht lerne, dann lerne ich es gar nicht. Das ist, als hätte ich eine schlechte Englisch-Lehrerin, die selbst kein Wort von der Sprache versteht. Dann ist es für mich unmöglich, selbst die Sprache von ihr zu lernen.
Da ich in solchen Situationen also meist ohne Hilfe dastand, hatte ich die Wahl. Entweder fühle ich alles, aber ich bin mit diesem „alles“ alleine und es ist zu viel, zu schrecklich und zu überfordernd, oder ich fühle einfach nichts. Denn wenn ich nichts fühle, sind die anderen nicht überfordert und ich selbst auch nicht. Als würde dreckiges Geschirr in der Küche stehen, aber ich ignoriere es einfach. Es verschwindet deswegen zwar nicht, aber ich kann zumindest so tun als ob.
Diese Strategie ist in solchen Momenten ziemlich sinnvoll. Wenn beide Optionen beschissen sind, nimmt man eben die, die ein kleines bisschen weniger beschissen ist. Die kann auch eine ganze Weile funktionieren. Muss sie ja auch. Zumindest so lange, bis man einen Ort oder eine Person findet, der/die es einem ermöglicht, mal über alles zu reden und alles zu fühlen.
Allerdings haben Gefühle und das dreckige Geschirr noch mehr Gemeinsamkeiten. Denn durch unser Leben kommt immer wieder neues Geschirr dazu. Natürlich gehen einem irgendwann die Teller aus, aber dann kann man sich ja einfach neue kaufen. Oder man holt sich Plastikgeschirr. Das kann man ja einfach wegschmeißen. Aber auch das macht Müll, den man dann wieder entsorgen muss. Und die dreckigen Teller und Gläser vom Anfang sind dann immer noch nicht weg.
Und genauso ist das mit Emotionen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man sehr lange sehr gut davor wegrennen kann, ohne sich auch nur eine Sekunde damit beschäftigen zu müssen. Ich habe mich beispielsweise die ganze Zeit abgelenkt. Mit Filmen, mit Musik, mit Schule/Uni, mit Freundinnen, mit Arbeit, mit ehrenamtlicher Arbeit, mit Konzerten und am Wochenende auch mit Alkohol. Ich habe einfach alles getan, um mich nicht mit mir selbst beschäftigen und vor allem nichts fühlen zu müssen. Und das hat ziemlich gut funktioniert. Die Emotionen von früher sind deswegen aber nicht verschwunden.
Nach den 16 Jahren Psychoterror, den ich zuhause erlebt habe, wollte ich danach verständlicherweise erstmal ganz viele gute Momente erleben. Also habe ich mir nicht nur irgendeine Ablenkung gesucht, sondern eine, die mir Spaß macht und mir ein gutes Gefühl gibt. Ich studierte also nicht einfach irgendwas. Ich studierte Fächer, die meine Leidenschaft waren. Ich besuchte Konzerte von Personen, die ich schon seit der Kindheit sehen wollte. Ich arbeitete bei einem Menschen, der mein persönlicher Cheerleader wurde und bis heute ist. Ich sammelte also haufenweise gute Momente voller Leichtigkeit, Freude, Wärme und Liebe.
Und auch in dieser Zeit habe ich meine Emotionen weiter unterdrückt. Ich hatte das ja schon so lange gemacht. Ich wusste gar nicht mehr, wie ich damit aufhören kann oder ob das überhaupt möglich ist. Es war ja normal für mich, die Welt so wahrzunehmen und so wenig zu fühlen. Leider unterdrückt man eben nicht nur Emotionen wie Wut, Trauer, Schuld und Enttäuschung, sondern auch solche wie Freude, Liebe, Begeisterung, Stolz und Wärme.
Rückblickend habe ich das Gefühl, dass ich in dieser Zeit gar nicht richtig da war. Ich war wie ein Roboter. Fremdgesteuert von meiner Vergangenheit (also meinem Unterbewusstsein) und ohne echte Emotionen. Damals hätte ich das natürlich nie so wahrgenommen oder so gesagt. So wie ein Fisch, der im Aquarium groß geworden ist, ja auch sagen würde, dass er auf jeden Fall genug Platz hat.
Vor über vier Jahren kam dann der Zeitpunkt, an dem all die unterdrückten Emotionen hochkamen. Und wie ihr euch sicher vorstellen könnt, sammelt sich in über 20 Jahren seeehhhr viel an. Genau wie beim dreckigen Geschirr. Es wird immer mehr, der Schmutz setzt sich fest und irgendwann fängt es an, zu schimmeln. Und je mehr Geschirr sich ansammelt, desto weniger von der Küche kann man nutzen. Irgendwann braucht man vielleicht sogar noch zusätzlich die anderen Räume, weil die Küche bis obenhin voll ist.
Also war ich - wie zu erwarten war - überfordert von dem riesigen Gefühlshaufen, der sich da angesammelt hatte. Ich wusste weder, wie ich da durchkomme noch wo ich anfangen soll. Und wie ein Fisch, der vom Aquarium in einen See umgesetzt wird, war ich erschrocken darüber, wie emotional begrenzt ich vorher war. Ich erinnere mich zwar an mein Abitur, mein Studium und meinen Job danach, aber ich habe kaum bis gar keine Emotionen mehr dazu. Und zu meiner Kindheit habe ich nicht mal mehr die Erinnerungen. Diese Zeit ähnelt eher einem schwarzen Loch.
Erst durch meine Erfahrungen der letzten Jahre ist mir bewusst geworden, was mir vorher gefehlt hat bzw. was ich damals verpasst habe. Das ist leider der Preis, den man zahlt, wenn man als Kind versucht, so eine schlimme Zeit zu überleben. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren Emotionen auch noch sehr anstrengend für mich. Wenn es Tage gab, an denen ich viel gefühlt habe, musste ich mich für ein paar Tage isolieren, weil ich die erstmal Stück für Stück abarbeiten musste und ich nicht wollte, dass währenddessen neue „Arbeit“ dazu kommt.
Mittlerweile kann ich bewusst steuern, wem ich wie viele Emotionen entgegenbringe bzw. wie viele ich von ihnen an mich heranlasse. Früher ging nur entweder alles oder nichts. Irgendwas dazwischen gab es nicht. Ich kann auch noch vereinzelt meine Gefühle zur Seite schieben und mir mal eine Pause von ihnen gönnen, aber dann kümmere ich mich später wieder um sie. Denn wie beim Geschirr ist man ja auch schneller mit dem Abwasch fertig, wenn man sich gleich darum kümmert und sich nicht erst wochenlang alles ansammelt.





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