Szenario Nummer 98
- Franzi C
- 31. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Von allen Orten auf der Welt fühle ich mich wahrscheinlich in meinem Kopf am wohlsten. Ich denke gerne nach, stelle mir schöne, lustige oder negative Szenarien vor, die nie es in der Wirklichkeit wohl so nie geben wird. Ich bin auch die, die aus dem Zugfenster schaut und dabei Tagträume hat. Und ich bin die, die sich bei Problemen 24 verschiedene Erklärungen dafür überlegt, wie das Problem entstanden ist, wie ich es lösen kann und wie andere darauf reagieren.
Früher habe ich mir oft vorgestellt, ich wäre Teil der Tanner-Familie in Full House, ein Gilmore Girl oder eine Hexe, die in Hogwarts zur Schule geht. Denn mit all denen hatte ich mehr gemeinsam als mit meinem eigenen Elternhaus. So konnte ich wenigstens ein paar schöne Momente mit Leuten erleben, die mich verstehen und bei denen ich mich wohl fühle, auch wenn diese nur imaginär sind. Und so habe ich diese Serien und Filme immer wieder gesehen und mir meine Portion Geborgenheit und Normalität abgeholt. Mein Kopf wurde so zu einem Ort voller Fantasie und Liebe.
Solche Fantasien habe ich heute kaum noch. Zumindest nicht mit fiktionalen Charakteren. Denn mittlerweile habe ich die Geborgenheit und die Normalität regelmäßig in meinem echten Leben. Jetzt stelle ich mir höchstens vor, wie ein ohnehin schon schönes Treffen gelaufen wäre, wenn noch eine andere Freundin von mir dabei gewesen wäre. Oder ich stelle mir vor, ob und wie sich zwei Freunde von mir verstehen würden, die sich (noch) nicht kennen.
Während ich das so aufschreibe, komme ich mir vor, als hätte ich nicht mehr alle Knödel in der Suppe. Keine Ahnung, ob das normal ist oder noch ein Überbleibsel von meiner kaputten Kindheit. Meine Therapeutin meinte dazu einmal, mein Kopf war früher der einzige Ort, der wirklich sicher war. Meine Eltern konnten mir alles nehmen, verbieten und schlecht reden. Aber meine Gedanken und Träume waren unantastbar. Sie waren das Einzige, das sie nicht manipulieren konnten.
Oder wie Albus Dumbledore mal im dritten Harry Potter-Film sagte: „Wenn wir träumen, betreten wir eine Welt, die ganz und gar uns gehört.“ Es ist vor allem eine Welt, die wir zu 100% beeinflussen und steuern können. Das gelingt uns in der Realität bzw. mit anderen Menschen eher weniger. Und das ist ja auch gut so. Wenn wir anderen vorschreiben könnten, was sie tun und sagen sollen, dann gäbe es zwar keine schlechten Überraschungen, aber eben auch keine guten mehr.
Ich glaube, es gibt bei mir auf Dauer keinen „Ich denke nicht über etwas nach“-Modus. Mein Kopf will immer über etwas nachdenken oder sich etwas vorstellen. Früher habe ich mir nur das Schlimmste vorgestellt und jeder meiner Gedanken war voller Angst, um mich auf alles mögliche vorzubereiten, sogar auf Probleme, die gar nicht existiert haben. Zumindest, wenn es um echte Menschen ging. Mit ihnen ging in meiner Vorstellung immer alles schief. Nur mit fiktionalen Figuren war alles in Ordnung. Und ehrlicherweise war das in der Realität nicht so viel anders.
Mittlerweile sieht meine Realität ganz anders aus. Und meine innere Welt hat sich daran angepasst. Beide sind nicht mehr so negativ, nicht mehr voller Angst und nicht mehr in ständiger Erwartung eines Angriffs. Leider habe ich viel zu oft diese Gedanken und meine Befürchtungen für die Realität gehalten. Dadurch habe ich mich selber in meiner eigenen Welt gefangen gehalten. Am Ende war mein Kopf wohl weniger ein Ort der Fantasie als ein Spiegel meines Lebens bzw. der Versuch, etwas Licht in all die Dunkelheit zu bringen.
Mein Kopf manipuliert mich jetzt nicht mehr oder versucht, mir alles schlecht zu reden. Im Gegenteil. Er zeigt mir eher, was realistischere Szenarien sind. Ich will mich eben immer noch auf alles vorbereiten, auch auf gute Dinge. Und genau wie früher, kann ich mir zwar 97 verschiedene Szenarien überlegen, doch die Realität präsentiert mir dann Szenario Nummer 98. Das ist im Guten und im Schlechten so. Aber die Guten haben zumindest den Vorteil, dass sie mich nicht so quälen.
Ich glaube, das eigene Leben ist um einiges entspannter, wenn im eigenen Kopf nicht immer so viel los ist wie bei mir. Die ganzen Gedanken - egal ob positiv oder negativ - verbrauchen eben auch eine Menge Energie. Vielleicht schaffe ich es ja, irgendwann nicht mehr so viel über Dinge nachzudenken, die ich nur wenig bis gar nicht beeinflussen kann.
Und trotzdem mag ich meine kleine, innere Welt. Früher war sie überlebenswichtig. Heute ist sie einfach nur schön. So als würde ich einen guten Film sehen, ein gutes Buch lesen, einen Spaziergang machen oder mit einer Freundin etwas essen gehen. Diese Welt hält mich auch nicht mehr gefangen und vernebelt mir den Blick auf die Realität. Sie ist mehr wie ein Hobby, dem ich mal mehr und mal weniger nachgehe. Und wenn ich schon nachdenken muss, dann doch lieber über schöne Sachen.





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