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Opfer sein ist optional

  • Autorenbild: Franzi C
    Franzi C
  • vor 10 Minuten
  • 5 Min. Lesezeit

Ich bin Opfer. Genauer gesagt das Opfer meiner Eltern. Und damit bin ich nichts besonderes. Ich bin nicht die Einzige, die eine schlechte Kindheit hatte. Alle Menschen haben schon etwas schlimmes erlebt und haben danach gelitten. Alle wurden bereits unfair behandelt, gemobbt, betrogen oder haben eine geliebte Person verloren. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Oder wie es eine Holocaust-Überlebende einmal formulierte: „Suffering is universal. But victimhood is optional“ (dt.: Leiden ist universell. Aber Opfer sein ist optional.).


Demnach wäre mein erster Satz schon falsch. Ich habe zwar schlimme Dinge erlebt und man könnte schon sagen, dass ich das Opfer meiner Eltern war, aber ich habe mich nie als Opfer gefühlt. Im Gegenteil, ich hatte vor ein paar Jahren sogar richtige Schwierigkeiten, dieses Gefühl von Hilflosigkeit, Unterlegenheit, fehlender Kontrolle und Selbstmitleid zuzulassen. Dabei ist das ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses. Für sich selbst anzuerkennen, dass man nie eine Chance hatte und es nichts gegeben hätte, was all die Dinge verhindert konnte.


Statt mich als Opfer zu sehen, hatte ich mir die ganzen Jahre lieber eingeredet, dass ich an allem Schuld war. Und das hatte mehrere Gründe. Zum einen war es das, was mir als Kind vermittelt wurde. Personen, die sich bewusst falsch verhalten, konstruieren gerne ihre ganz eigene Version der Realität, in der sie alles richtig gemacht und nur so gehandelt haben, weil die anderen oder in dem Fall ich angeblich etwas falsch gemacht haben.


Zum anderen gibt man sich als Kind lieber selbst die Schuld, als auch nur ansatzweise den Gedanken zuzulassen, dass die eigenen Eltern vielleicht doch nicht so toll sein könnten, wie man es gerne hätte. Denn schließlich sind doch alle Eltern total toll und lieben ihre Kinder über alles und machen immer alles richtig. Wenn meine also nicht so sind, dann sicher nur, weil mit mir etwas nicht stimmt, oder?


Zum ganz anderen gab mir die Schuld auch das Gefühl, dass ich etwas ändern kann. Ich habe mich dadurch nicht so hilflos gefühlt, denn wenn ich ganz alleine Schuld bin, kann ich ja auch ganz alleine etwas an meiner Situation ändern. Wenn meine Eltern Schuld wären, müsste ich ja darauf warten, dass sie sich ändern. Und so hatte ich wenigstens ein Gefühl der Kontrolle.


Und oft habe ich das Gefühl, es gibt Menschen, die dieses Gefühl dieser Kontrolle gar nicht haben wollen. Nicht mal als Erwachsene, wenn sie diese Kontrolle tatsächlich haben. Sie sind lieber hilflos und tragen für nichts die Verantwortung, nicht mal für ihr eigenes Leben als Erwachsene. Und ich verstehe es sogar. Es ist so schön einfach, wenn man die eigene Identität auf dem Opfer-sein aufbaut und sich einredet, dass man als Opfer ja auf gar keinen Fall auch Täter oder Täterin sein kann. Man kann machen, was man will, denn: Einmal Opfer, immer Opfer! Es ist ein lebenslanger Freifahrtschein für das eigene Fehlverhalten.


Dabei stimmt das einfach nicht. Wenn ich früher Opfer war, kann ich sogar  sehr gut heute Täterin sein. Meine Mutter hat mich z.B. immer auf Distanz gehalten. Und jetzt ratet mal, wie ich mich als Erwachsene verhalten habe. Genau, auch ich habe Leute von mir weggestoßen und damit verletzt. Für das, was mir als Kind passiert ist, kann ich nichts, aber ich trage die Verantwortung dafür, wie ich mich als Erwachsene verhalte und wen ich damit verletze.


Wie schon gesagt, es ist wichtig, den Opfer-Teil anzuerkennen, die Hilflosigkeit zuzulassen und sich nicht mehr die Schuld an allem zu geben. Aber irgendwann sollte man damit eben auch wieder aufhören. Denn wenn wir eine Weile lang in schweren, stressigen Umständen stecken, passen wir unser Verhalten an diese Umstände an, um so gut wie möglich dadurch zu kommen. Ich habe mich früher isoliert, nicht mehr nach Hilfe gefragt, meine Emotionen unterdrückt, viele Filme geguckt und Süßigkeiten gegessen, bis mir schlecht wurde.


Ich brauchte das, um mit allem klarzukommen. Das Problem war nur, dass ich das auch noch gemacht habe, als der ganze Spuk schon längst vorbei war. Also habe ich nicht nur unangenehme, sondern auch schöne Emotionen unterdrückt und meinen Freundinnen nicht geschrieben, um sie nicht zu nerven. Es ging sogar so weit, dass ich in einem schweren Kurs an der Uni den Dozenten wochenlang nicht nach Hilfe gefragt habe. Stattdessen starrte ich Woche für Woche stundenlang planlos auf die Unterlagen, besuchte den begleitenden Übungskurs dazu und versuchte erfolglos, das englische Lehrbuch, auf dem der Kurs aufbaute, zu lesen. All das nur, um nicht nach Hilfe fragen zu müssen.


Was ich damit sagen will, ist, es kommt der Zeitpunkt, an dem die alten Verhaltensmuster einem das neue Leben unnötig schwer machen. Man steht sich selbst und einem schöneren Leben im Weg. Und wenn man das erkennt, ist es Zeit, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und sich zu fragen, ob das jetzige Verhalten zu dem gewünschten Ergebnis führt. Weniger Zeit mit Freundinnen zu verbringen, nichts mehr zu fühlen und vielleicht sogar in einem Kurs durchzufallen, war sicherlich nicht das Ergebnis, das ich mir wünschte.


Das Problem mit meinen Freundinnen und meinen Emotionen konnte ich damals noch nicht beheben. Hauptsächlich weil ich das damals noch gar nicht bewusst als selbstverursachtes Problem wahrgenommen habe. Die Erkenntnis kam erst vor ein paar Jahren. Aber das mit dem Kurs konnte ich lösen. Ich habe den Dozenten nach Hilfe gefragt und am Ende den Kurs bestanden. Ein großer Schritt für mich, aber komplett bedeutungslos für den Rest der Menschheit.


Wer nicht die Verantwortung für das eigene Handeln übernimmt, hofft vielleicht, dass irgendwann Superman durch das Fenster geflogen kommt und einen rettet. Und wenn es nicht Superman ist, dann ist es vielleicht eine Therapeutin, eine Freundin oder ein Partner. Leider wird das nicht passieren. Es kann helfen, eine Person zu kennen, die einem hilft, sich zu verändern, aber die Veränderung selbst kann einem niemand abnehmen. Genau wie mir ein hilfsbereiter, geduldiger Dozent dabei geholfen hat, Hilfe von jemand anderem anzunehmen, aber erkennen, dass ich Hilfe brauche und auch nach dieser zu fragen, musste ich schon selbst.


Wer nicht selbst tätig wird, wiederholt nur die alten Verhaltensmuster und bleibt in einem Leben stecken, dass man doch eigentlich verlassen will. Wer immer zu schnell fährt, brauch sich nicht zu wundern, wenn der Blitzer auslöst. Dem Blitzer die Schuld zu geben oder es damit zu rechtfertigen, dass die Geschwindigkeit früher nicht als zu schnell galt, wird nicht verhindern, dass der Blitzer wieder auslöst.


Wir können nicht verhindern, schlechte Erfahrungen zu machen. Aber wir haben in der Hand, wie wir damit umgehen. Im Gegensatz zu damals habe ich jetzt tatsächlich die Verantwortung für alles, was passiert, und damit auch endlich die Kontrolle. Das finde ich nach all den Jahren wirklich sehr befreiend.  Denn so, wie ich mich jetzt verhalte, sagt viel mehr über mich aus, als das, was mir damals passiert ist.

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