Ein Blauwal aus Schuld
- Franzi C
- vor 5 Tagen
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Vom Perfektionismus haben wir alle schon mal gehört. Aber wusstet ihr, dass es nicht nur eine Form des Perfektionismus gibt? Es gibt zum einen den materiellen Perfektionismus. Bei ihm geht es darum, dass Dinge wie die eigene Wohnung immer perfekt aussehen müssen oder dass beim Kochen die Zwiebeln immer auf eine bestimmte Art geschält und geschnitten werden müssen. Solche Sachen sind mir glücklicherweise egal. Zum anderen gibt es den moralischen Perfektionismus. Und die wenigen Artikel, die es zu diesem Thema gibt, lesen sich wie eine exakte Beschreibung meines Innenlebens.
Der moralische Perfektionismus wird auch existentieller oder sozial vorgeschriebener Perfektionismus genannt. Letzteres fasst für mich das Problem am besten zusammen. Jemand (= meine Eltern) hat mir eingeredet, dass ich mich zwischenmenschlich perfekt verhalten muss. Nur leider war deren Definition von perfekt gelinde gesagt ein kompletter Brainfuck.
Als Kind dachte ich, es geht darum, perfekt zu sein, denn nur dann bin ich es Wert, von meinen Eltern oder von anderen geliebt zu werden. Dabei ging es immer nur darum, mich zu verunsichern und mir bei allem, was ich tue, zu vermitteln, dass ich nicht gut genug bin. Ich hoffte also, dass ich irgendwann herausfinde, wie die perfekte Version von mir aussieht. Und so passte ich mein Verhalten immer weiter an und spielte nach ihren Regeln. Und die Regeln lauteten: (1.) Sei ruhig, (2.) mach, was wir von dir verlangen, und (3.) wage es nicht, dich jemals zu beschweren.
Perfekt war für mich ein Zustand, den ich zwar immer anstreben sollte, aber in Wirklichkeit nie erreichen konnte. Denn er war und ist immer noch wie der Goldtopf am Ende eines Regenbogens. Niemand weiß, wo das Ende des Regenbogens ist und ob da überhaupt ein Topf voll Gold steht. Perfekt ist wie ein eigenes Haus für Millenials: Unerreichbar.
Mein Perfektionismus ist auch heute noch wie eine Linie, die ich auf gar keinen Fall überschreiten darf. Manchmal ist sie fett, rot und schon aus weiter Ferne erkennbar. Aber manchmal sehe ich sie nicht mal dann, wenn ich direkt vor ihr stehe. Und egal, auf welcher Seite dieser Linie ich stehe, sie löst einfach immer Stress aus.
Wenn ich auf der „richtigen“ Seite stehe, bin ich zwar zufrieden mit meinem Verhalten, aber mich begleitet die ständige Angst, dass ich bald auf der anderen Seite stehen könnte, wenn ich nicht genug aufpasse. Und wenn ich dann wirklich auf der „falschen“ Seite stehe, ist das wie mein ganz persönlicher, moralischer Weltuntergang. Der kleinste Fehler wird zu einem riesigen Elefanten aufgeblasen. Oder eher zu einem Blauwal. Ein Blauwal aus Scham und Schuldgefühlen.
Egal, was ich tue, ich habe immer diese eine Linie im Blick. Diese Linie bestimmt meinen Wert als Schwester, als Freundin, als Mensch. Und wenn ich meiner Meinung nach die Linie übertreten habe, überfällt mich sofort mein schlechtes Gewissen und die Angst, dass die andere Person deswegen nichts mehr mit mir zu tun haben will.
Dann denke ich die ganze Zeit darüber nach, wie sehr ich die Person mit meinem Verhalten verletzt habe. Dabei ist es das Letzte, was ich will. Für mich ist dann automatisch die gesamte (zwischenmenschliche) Beziehung in Gefahr. Deswegen will ich mich dann auch sofort entschuldigen und bin wie besessen davon, herauszufinden, warum ich mich so daneben benommen habe. Ich möchte wissen, wo mein Fehler war, damit er mir nicht nochmal passiert. Schon schlimm genug, dass ich wegen meines fahrlässigen Verhaltens diese eine Person schon verlieren werde.
Das absurde ist, dass ich überhaupt keine Probleme damit habe, anderen Fehler zu verzeihen (solange sie sich selbst und mir gegenüber eingestehen können, dass etwas schief gelaufen ist). Einige Dinge, die ich „falsch“ gemacht habe, würde ich bei anderen nicht einmal als Fehler bezeichnen. Oft denke ich mir bei ihnen: „Das könnte man jetzt auch falsch verstehen, aber ich weiß ja, wie sie es meinen.“ Wir alle sind mal schlecht drauf, sind krank oder betrunken, haben einen Kater, denken nicht nach oder finden einfach keine besseren Worte.
Am Ende bleibt es ein komplett selbstkonstruiertes Problem. Es existiert nur in meinem Kopf. Denn sobald ich mich entschuldige, bekomme ich Antworten wie „Ist doch alles halb so schlimm.“ oder sogar „Wofür entschuldigst du dich? Du hast doch gar nichts falsch gemacht.“ Solche Aussagen sorgen bei mir nicht nur für Erleichterung, sondern auch für Verwirrung.
Die Linie, von der ich dachte, ich hätte sie übertreten, existierte in Wirklichkeit ja gar nicht. Das stundenlange Gedankenkreisen war also völlig umsonst. Wer hätte auch ahnen können, dass es scheinbar Menschen gibt, die nicht jede Kleinigkeit als Ausrede dafür nutzen, mich beleidigen oder ignorieren zu können?!
Natürlich weiß ich mittlerweile, dass solche Menschen auch existieren. Die Momente der Erleichterung und Verwirrung sind ja jedes Mal wieder der Beweis dafür. Ich glaube einfach, friedliche und harmonische Beziehungen verunsichern mich immer noch. Wenn nicht ständig großes Drama passiert, denke ich, dass ich etwas übersehe und dass eine längere Ruhephase nur bedeutet, dass das kommende Drama umso größer und zerstörerischer wird.
Dabei ist es vollkommen normal, dass man eine Person zehn Jahre oder länger kennt und sich nicht ein einziges Mal mit ihr streitet. Sowas geht eben, wenn man auf einer Wellenlänge ist, dieselben Werte hat und der anderen Person nicht permanent mit Feindseligkeit begegnet. Mit dem Vertrauen darin, dass die andere Person einen nie verletzen würde, und dem Wissen, dass niemand perfekt ist, muss man die kleinen Makel nicht unnötig dramatisieren, sondern kann sie als das sehen, was sie sind: Normale, menschliche Macken.
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