Ich verstehe meine Eltern
- Franzi C
- 12. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Mit Blick auf mich, meine Kindheit, meine Eltern und allem was so passiert ist, schwanke ich oft hin und her. Wie ein Pendel, das erst in die eine Richtung ausschlägt und dann in die andere. Auf der einen Seite befindet sich tonnenweise Empathie, auf der anderen eine Mischung aus Verachtung und Verständnislosigkeit. Und zwar für meine Eltern.
Denn Einerseits weiß ich aus Erzählungen bzw. kann mir aus ihrem damaligen Verhalten herleiten, wie schlimm deren Kindheit war. Ich sehe, dass sie zutiefst verletzte und kaputte Menschen waren und wahrscheinlich immer noch sind. Sie sind Menschen, die die Wunden ihrer Kindheit bis heute in sich tragen. Wie ein Knochenbruch, der nie geheilt ist und immer noch wehtut. Rückblickend gibt es viele Momente, in denen ich sehe, dass mir damals als Kind eben gar keine Erwachsenen gegenüber standen, sondern kleine, hilflose und überforderte Kinder, die selber noch darum kämpften, von irgendwem geliebt zu werden.
Meine Eltern haben vielleicht sogar ihr Bestes gegeben. Sie waren Menschen, die sich noch nicht lange kannten, als meine Mutter schwanger wurde. Es war damals selbstverständlich, dass Mann und Frau irgendwann ein Kind kriegen, also haben sie mich auf die Welt gebracht. Abtreibung war, soweit ich weiß, 1993 noch keine legale Option.
Dabei gehört zumindest meine Mutter zu der Sorte Mensch, die es sich einmal mehr überlegen sollte, ob sie wirklich ein Kind in die Welt setzt. Ihr schien immer, das Mutter-Gen und die menschliche Wärme zu fehlen. Oder vielleicht hatte sie die sogar, aber hat nie gelernt, sie rauszulassen und zu zeigen. Es gibt Menschen, bei denen fühlen sich alle sofort wohl, und es gibt Menschen, die muss man erst näher kennenlernen, damit sie ihre herzliche Seite zeigen. Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Aber meine Mutter schien zu keiner davon zu gehören. Zumindest haben bei ihr und mir 16 Jahre nicht ausgereicht, um miteinander warm zu werden.
Andere Menschen, aber vor allem Kinder, zeigen einem schnell die eigenen Schwächen auf. Als meine Schwestern geboren wurden, die streng genommen meine Cousinen sind, also aus derselben Familie sind, aber andere Eltern haben als ich (der Unterschied ist für diesen Text ausnahmsweise ziemlich wichtig), gab es kaum einen Tag, an dem ich nicht an meine Grenzen gekommen bin.
Am schlimmsten waren für mich die Momente, in denen sie anders behandelt wurden als ich früher. Wenn sie einen Becher mit Saft verschüttet haben und daraufhin kein minutenlanger Vortrag voller Enttäuschung und Vorwürfe folgte, hat mich das irritiert. Ich war dann verwundert, weil mir gar nicht klar war, dass so eine verständnisvolle Reaktion auch möglich ist. Sie wurden auch jeden Abend ins Bett gebracht und ihnen wurden Geschichten vorgelesen, auch wenn es eine Stunde oder länger dauerte. Ich hatte damals nur Märchen-Kassetten. Und selbst von denen durfte ich nur eine Seite (also auch nur die Hälfte des Märchens) hören. Dann musste ich entweder eingeschlafen sein oder ich hatte eben Pech.
Ich stellte mir dann immer Fragen wie: Warum hatte ich das alles nicht? Was habe ich falsch gemacht? Habe ich sowas vielleicht einfach nicht verdient? Ich fühlte mich rückwirkend unfair behandelt und traurig, weil das für mich damals bedeutete, dass ich ein schlechteres Kind war, das diese Zuneigung nicht verdient hatte.
Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass meine Eltern auch unzählige dieser Momente hatten. Nämlich immer wenn meine Großeltern mich besser behandelt haben als sie, also meine Eltern, viele Jahre vorher. Aber auch immer dann, wenn ich mich so verhalten habe, wie sie es in ihrer Kindheit nie durften: Laut, chaotisch, anhänglich, kindisch und von Natur aus unberechenbar. Das alles ist bestimmt noch schmerzhafter, wenn das eigene Kind solche Gefühle auslöst und nicht „nur“ die Cousinen.
In solchen Momenten steht man jedes Mal wieder vor der Frage: Behandle ich das Kind so, wie ich damals auch behandelt wurde, und sorge dafür, dass es ihm später genauso geht wie mir jetzt oder durchbreche ich diesen Teufelskreis und gebe ihm all das, was nie hatte? Oder anders gefragt: Verhalte ich mich wie das verletzte Kind in mir oder wie eine Erwachsene?
Ich wollte nie, dass sich jemand wegen mir mal so schlecht fühlt, wie ich mich wegen meiner Eltern. Also war für mich klar, dass meinen Schwestern alles gebe, was ich nie hatte. Ich habe also wortlos den verschütteten Saft aufgewischt und solange Geschichten vorlesen, Lieder gesungen und mit ihnen die wichtigen Fragen ihres Lebens besprochen, bis sie eingeschlafen sind.
Sowas ist extrem schwer und fühlte sich früher jedes Mal so an, als würde ich mich selbst bestrafen, denn ich habe mir selbst verboten, mich so zu verhalten, wie ich es aber eigentlich gerne getan hätte. Genau wie in meiner Kindheit, wo mir von meinen Eltern verboten wurde, einfach ich selbst zu sein. Das innere Kind in mir wurde also schon wieder bestraft. Mittlerweile verbiete ich mir dabei gar nichts mehr, sondern überlege, welches Verhalten ich mir früher gewünscht hätte, und dann setze ich es um.
Meine Eltern hingegen waren wohl wie gefangen in ihrem eigenen Teufelskreis und schienen nie den Ausgang zu finden. Also haben sie sich sehr oft für den leichteren Weg entschieden. Sie haben sich selbst kaum bis gar nichts verboten und die meisten Fehler ihrer Eltern übernommen oder sogar noch neue gemacht. Und an diesem Punkt endet dann auch schon meine Empathie. Das Pendel schwingt zur anderen Seite und übrig bleibt nur noch absolute Verständnislosigkeit.
Warum haben sie sich für den leichten Weg entschieden? Offensichtlich, weil er einfacher ist als die Alternative. Schon klar. Aber die eigentliche Frage, die dahinter steckt, ist doch: Warum haben sie den leichten Weg genommen, obwohl sie wussten, wie viel Schmerz und Leid der für mich auslöst? Und nicht nur für mich. Auch für sie. Denn sie werden von Opfern zu Tätern. Sie können nichts dafür, dass sie als Kind so behandelt wurden, aber sie können ganz klar etwas dafür, wenn sie als Erwachsene das eigene Kind auch so behandeln.
Das ist eine Entscheidung. Die trifft man auch nicht nur einmal, sondern immer wieder. Jeden Tag, manchmal sogar mehrmals an einem Tag. In jedem Gespräch, jeder Interaktion, jeder Entscheidung, die man für und mit dem Kind trifft, hat man die Wahl, ob man es bestraft und abwertet oder ob man die Familientradition endlich mal unterbricht und ihm stattdessen Liebe und Zuneigung entgegen bringt.
Ich habe tatsächlich eine Menge Empathie für meine Eltern. Mehr als sie für mich je übrig hatten. Und es ist gut möglich, dass ich sie sogar besser verstehe als sie sich selbst. Aber das ist eben keine Entschuldigung für irgendwas. Meine Kindheit war - dank ihnen - ähnlich schrecklich wie ihre und trotzdem habe ich alles getan, um mich nie so zu verhalten wie sie. Auch wenn mir das bei Weitem nicht immer gelungen ist.
Aber sie haben es nicht mal versucht. Mag sein, dass sie wirklich ihr Bestes gegeben haben. Aber ihr Bestes hat mich mehrfach traumatisiert. Ihren Entwurf von Liebe arbeite ich bis heute auf. Ihr gut gemeint hat mich meine Kindheit und einen Großteil meiner Jugend gekostet. Am Ende ist gut gemeint eben doch nur der ungefickte Bruder von gut gemacht.
Ich habe nicht eine einzige Faser in meinem Körper, die versteht, wie man sich dem eigenen Kind gegenüber so verhalten kann. Aber sie haben diese Entscheidungen immer wieder getroffen. Sie haben sich immer wieder gegen mich entschieden. Bis ich mich dann irgendwann auch gegen sie entschieden habe. Das ist die Konsequenz ihrer Entscheidungen und damit müssen sie jetzt leben. Ich hoffe, das war es ihnen wert.
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