Charakter ist, was wir daraus machen
- Franzi C
- 26. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Neulich sagte mal ein alter weiser Mann zu mir: „Es sind nicht die Fähigkeiten, die zeigen, wer wir wirklich sind. Es sind unsere Entscheidungen.“ Der Mann war Albus Dumbledore. Und streng genommen hat er es nicht zu mir sondern zu Harry Potter gesagt. Also eigentlich habe ich nur Harry Potter und die Kammer des Schreckens gesehen. Aber dabei ist mir etwas interessantes aufgefallen.
Denn früher ging es mir wie Harry. Während er jahrelang dachte, er sei wie der Bösewicht, der seine Eltern getötet hat, dachte ich, ich sei wie meine toxischen Eltern. Mir war es immer wichtig, mir selbst und anderen klar zu machen, dass ich ganz anders bin als sie. Dabei sind wir charakterlich gar nicht so verschieden. Ich setze meinen Charakter nur völlig anders ein als sie.
Wie meine Mutter bin ich eine introvertierte Person, die gerne zuhause bleibt. Und genau wie sie kann ich ziemlich stur sein. Genau wie mein Vater lese ich gerne Bücher und liebe ich es, zu klugscheißen. Und auf wundersame Weise schaffen die beiden es, aus all diesen Eigenschaften das schlechteste herauszuholen.
Meine Mutter war in meiner Kindheit nicht nur viel zuhause. Sie hat sich isoliert, hatte kaum Freunde (und wenn, dann nie lang) und hat auch nie einen Ausflug oder zumindest einen Spaziergang mit mir gemacht. Stattdessen saß sie den ganzen Tag vom Fernseher und nahm Barbara Salesch-Folgen auf VHS-Kassetten auf. Und ihre Sturheit ging so weit, dass jedes Gespräch innerhalb von wenigen Minuten zu einem Machtkampf wurde, den sie um jeden Preis gewinnen musste. Sie war nicht in der Lage, ihre Meinung oder Entscheidung im Nachhinein zu ändern. Ihr Weg war immer der richtige und deshalb mussten ihn alle gehen, ob sie wollten oder nicht.
Wie gesagt, ich habe ebenfalls die Veranlagung dazu, stur zu sein und viel drinnen zu bleiben. Ich dachte, das sind schlechte Eigenschaften bei ihr und demnach auch bei mir. Ich habe es gehasst, so zu sein wie die Person, die mir so viel Leid zugefügt hat. Ich wollte auf gar keinen Fall so sein!
Ich war schon immer gerne drinnen und auch alleine. Es tut mir gut. Ich brauche diese Zeit für mich, um Eindrücke und Gespräche zu verarbeiten. Früher war das auch der einzige Moment, in dem ich meine Gedanken klar hören konnte. Denn sobald andere Menschen anwesend waren, war für mich die höchste Priorität, herauszufinden, welche Bedürfnisse sie haben und was ich machen muss, um ihnen diese zu erfüllen.
Die Zeit alleine war also wichtig, um mich und meine Bedürfnisse nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Und gleichzeitig habe ich mich selbst dafür verurteilt, wenn ich alleine zuhause war. In meinen Augen war es falsch. Ich dachte, ich muss extrovertiert sein und einen großen Freundeskreis haben, denn nur so werde ich nicht wie meine Mutter. Gleichzeitig fühlte sich das aber unnatürlich und stressig an, wenn ich extrovertiert war oder viele Menschen um mich herum hatte. Es war absurd.
Dabei ist viel wichtiger, was man aus dem introvertiert sein macht. Statt Isolation und Trash TV suchte ich mir Hobbys, die ich alleine zuhause machen kann. Ich fing an zu malen, zu lesen und Klavier zu spielen. Und ich stellte fest, dass es noch etwas zwischen keinen Freunden und extrem vielen Freunden gibt, nämlich ein paar Freunde. Ich suchte mir also wenige, aber dafür gute Freunde, mit denen ich über den neusten Gossip, aber auch über meine Unsicherheiten und die großen Fragen des Lebens reden konnte.
Mit der Sturheit war das ähnlich. Wenn man die so schlecht einsetzt wie meine Mutter, hat niemand mehr Lust, sich mit einem zu unterhalten oder Zeit mit einem zu verbringen. Denn als ihre Gesprächspartnerin fühlte ich mich immer, als würde ich gegen eine Wand reden. Stattdessen machte ich aus meiner Sturheit ein Durchhaltevermögen, Zielstrebigkeit und den Willen, hart für etwas zu arbeiten, wenn es mir wichtig ist. Mir war es nie wichtig, Recht zu haben oder Dinge auf eine bestimmte Art zu erledigen.
Aber mir war wichtig, diese angeborene Sturheit auf Dinge zu lenken, die wirklich wichtig waren und mich weiterbringen: Schule, Studium, meine Therapie, mein Musikunterricht. Wenn mir etwas wichtig ist, gebe ich nicht auf, egal wie viele Hindernisse mir auf dem Weg begegnen. Und ich gehe meinem Weg unabhängig davon, ob ihn andere verstehen oder gut finden.
Aber auch die Eigenschaften meines Vaters setze ich anders ein als er. Während er gerne Fantasy-Bücher liest, lese ich lieber Fachbücher, z.B. über Kommunikation und Psychologie. Sie helfen mir dabei, mich selbst und andere besser zu verstehen. Wie mein Vater streue ich auch öfter mal unnützes Wissen in Gesprächen mit anderen ein. Aber im Gegensatz zu ihm mache ich das nicht von oben herab oder weil ich es geil finde, etwas zu wissen, was andere nicht wissen. Mir würde auch nicht einfallen, mich auf einem Mittelaltermarkt darüber aufzuregen, dass der dort verkaufte Schmuck historisch nicht korrekt ist, weil dieses und jenes Metall erst ab dem 17. Jahrhundert in Europa verwendet wurde, während ich gleichzeitig einen Nutella-Crêpe esse.
Ich mache es, weil mich die Themen selbst interessieren und ich mich darüber freue, der anderen Person etwas erzählen zu können, was sie ebenfalls interessiert. Ich mag es auch, wenn mir andere etwas neues erzählen und ich etwas dazu lernen kann. Ich verurteile andere aber nicht dafür, wenn sie dieses unnütze Wissen nicht haben.
Denn wie Dumbledore schon sagte, es kommt nicht darauf an, wie wir sind, sondern was wir aus dem machen, wie wir sind. Wir können nicht beeinflussen, ob wir introvertiert oder extrovertiert sind, ob wir uns in großen Menschengruppen wohl fühlen oder nicht. Aber wir haben jederzeit die freie Entscheidung darüber, was wir aus unseren Eigenschaften machen. Genau wie Harry sich dazu entschied, seine Zauberkünste und seine Fähigkeit, mit Schlangen sprechen zu können, nicht dazu zu nutzen, anderen zu schaden, sondern dazu, anderen zu helfen oder sie zu beschützen.
Jede Eigenschaft hat eine positive und eine negative Version. In meiner Kindheit haben meine Eltern meine guten Eigenschaften immer gegen mich verwendet, so dass sie ihnen nutzten und mir schadeten. Meine Empathie wurde dazu benutzt, mir einzureden, ich wäre für die Probleme und Emotionen meiner Eltern verantwortlich.
Heute weiß ich, dass ich nicht für andere verantwortlich bin. Statt immer tonnenweise Empathie für andere aufzubringen und dadurch sogar respektloses und verletzendes Verhalten zu entschuldigen, unterscheide ich zwischen Menschen, die meine Empathie verdient haben, und Menschen, die sie nicht verdient haben. Ich bringe sie nur noch für Personen auf, die mir nicht schaden und die nicht von mir verlangen, ihre Probleme zu lösen. Dann kann ich meine Empathie einsetzen, ohne anderen oder mir selbst zu schaden. Am Ende ist unser Charakter eben das, was wir daraus machen.
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