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Sprachlos

  • Autorenbild: Franzi C
    Franzi C
  • 25. Apr. 2024
  • 6 Min. Lesezeit

Vor drei Jahren machte ich Urlaub am Meer. Ich brauchte eine Pause von dem Job, der mir keinen Spaß mehr machte, und von meinem Leben, dass nicht schlecht war, aber auch nicht besonders gut. Alles plätscherte so vor sich hin. Ich lief wie auf Autopilot.


Auch wenn ich mich an den größten Teil meiner Kindheit gar nicht erinnern kann, kann ich sicher sagen, dass sie scheiße war. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht erwünscht war. Als wäre ich ein unhöflicher Gast, der meine Eltern mal besucht hat und seitdem einfach nicht mehr gehen will. Als Jugendliche habe ich dann meinen Eltern den gefallen getan und bin gegangen. Genauer gesagt bin ich gerannt. Ich rannte 12 Jahre lang. Ich war auf der Suche nach einem Ort oder einer Person, bei der ich willkommen war. Aber egal, wie weit ich lief, der Dreck meiner Vergangenheit lag wie ein Schleier über mir und verdeckte alles, was um mich herum war. Ich nahm die Welt nur verzerrt wahr und war wie ferngesteuert. Zumindest bis zum besagten Urlaub.


Der Urlaub war von Anfang an irgendwie anderes als die anderen. Ich war ruhiger als sonst. Ich hörte auf, zu rennen. Meine Urlaubsreisen laufen alle sehr ähnlich ab. Meistens erkunde ich vormittags die Gegend. Nachmittags gehe in Cafés und lese ein Buch. Dabei höre ich immer Musik. Sie schützt mich von der Außenwelt. Britney und Miley sind meine Bodyguards, die alles Schlechte von mir fern halten sollen. Aber dieses Mal wollte ich mein Schutzschild nicht. Es war, als würde ich mich unbewusst zum ersten Mal in meinem Leben angreifbar machen wollen. Angreifbar für alles, was in den nächsten Tagen noch kommen würde.

In der letzten Nacht des Urlaub hatte ich einen Albtraum. Ich saß ich am Esstisch meines Elternhauses. Dem Haus, dass ich seit elf Jahren nicht mehr betreten hatte. Meine Eltern wohnten da schon eine Weile nicht mehr und auch sonst niemand. Das Haus moderte vor sich hin und näherte sich optisch immer mehr dem Haus der Addams Family an. Die Beziehung zu meinem Vater war in einem ähnlichen Zustand wie das Haus. Die zu meiner Mutter war schon seit Jahren irreparabel geschädigt. Ich wusste nicht einmal, wo sie gerade wohnt, und, um ehrlich zu sein, wollte ich es auch nicht wissen. In dem Traum saß ich also einfach nur da. Mehr nicht. Und doch machte es mir solche Angst, dass ich mitten in der Nacht schweißgebadet und mit Herzrasen aufwachte. Mit der Zeit verstand ich, was der Albtraum alles bewirkt hatte.


Am Morgen danach merkte ich, dass dieser Albtraum mal eben so meinen Schleier entfernt hatte. Einfach so. Ohne Ankündigung. Also ohne eine Ankündigung, die ich verstanden hätte. Rückblickend hat sich das alles bereits Monate vorher angekündigt. Aber mein Unterbewusstsein scheint eine andere Sprache zu sprechen als ich. Fast so, als hätte jemand die Sprache bei meinem Netflix-Account auf Schwedisch umgestellt. Ich sehe, was passiert, aber verstehe überhaupt nicht, was die Protagonist:innen mir sagen. Durch meinen Traum haben sich die Spracheinstellungen über Nacht wieder auf Deutsch gestellt. Der Schleier verschwand und plötzlich sah alles anders aus. Alles war viel klarer, aber gleichzeitig auch so viel verwirrender. Auf einmal sah ich, wohin ich die letzten Jahre gerannt bin. Ich war in einem Labyrinth und fand den Ausgang nicht. Ich habe gesehen, was in den letzten Jahren passiert ist, aber es fühlte sich an, als wäre es nicht meine Geschichte, sondern die einer anderen Person. Als wäre ich 28 Jahre lang schlafgewandelt und jetzt hat mir jemand die Videoaufnahmen davon gezeigt.


Vom einen Tag zum anderen sah die Welt für mich völlig anders aus. Selbst die alltäglichsten Dinge waren nicht mehr so wie vorher. Das lag daran, dass mein Kopf offenbar kein gutes Zeitgefühl hatte. Es vermischte die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander. Dieses Chaos wurde nur durch lose Fäden zusammengehalten. Nichts machte wirklich einen Sinn. So entstanden die verrücktesten Gefühle aus den absurdesten Gründen. Du willst einkaufen gehen? Okay, aber dann kriegst du eine Angstattacke, weil deine Eltern nie für dich da waren, wenn du sie gebraucht hast. Du willst dich mit einer Freundin treffen? Versuch’s doch! Aber du wirst die Angst haben, dass du sie zum letzten Mal sehen wirst, wie damals nach der Trennung deiner Eltern — an der übrigens nur du allein Schuld warst — als dein Vater auf einmal nicht mehr jeden Tag da war. Du willst dir einen Therapieplatz suchen? Viel Glück. Aber nicht mal deine Eltern wollten etwas mit dir zu tun haben und so viel Geld kannst du der Therapeutin gar nicht geben, dass sie sich freiwillig mit deinen Problemchen beschäftigt. Und warum überhaupt? Nur weil du deinen Körper hasst? Jetzt hab dich mal nicht so. Du bist doch die einzige auf der Welt, der es so geht. Das versteht doch nicht mal eine Psychologin. Und bei deinem hässlichen Körper ist ja auch kein Wunder, dass du noch nie einen Partner hattest. Das will sich doch niemand ansehen. Da hilft dir auch keine Therapeutin.


Durch all die wirren Gefühle und Gedanken konnte ich zudem auch nicht mehr einschlafen. Mein Kopf kam einfach nicht mehr zur Ruhe. Nur wenn nach ein paar schlaflosen Nächten meine Müdigkeit stärker war als das Chaos in meinem Kopf, bekam ich mal etwas Erholung. Wenn ich dann völlig übermüdet meinen Tag beschreiten und das Wirrwarr in Worte fassen wollte, um für etwas Ordnung zu sorgen, scheiterte ich kläglich. Als wären meine Gedanken ein Paar Kopfhörer, das in der Waschmaschine mit gewaschen wurde. Einfach unmöglich zu entknoten. Gerade jetzt, wo es mir so sehr helfen würde, meine Ängste und Sorgen aus meinem Kopf heraus und auf ein Blatt Papier zu bekommen, bin ich sprachlos. Ich hätte so viel zu sagen, aber ich finde die Worte nicht. Mein mentales Wörterbuch ist in eine Millionen Teile zerrissen worden.


Irgendwann traf ich Menschen, denen es ähnlich ging. Viele beschreiben die Zeit des Schlafwandelns als ihr erstes Leben. Es ist wie die Probe eines Theaterstücks. Alles, was man währenddessen tut, zählt nicht. Normalerweise geht dabei auch viel schief. Das richtige, bewusste Leben beginnt erst, wenn der Schleier weg ist. Dann wacht man plötzlich auf. Und nach 28 Jahren Leben aufzuwachen ist, gelinde gesagt, eine beschissene Situation. Ich schaltete den Autopiloten aus und fing an, selbst zu fahren. Allerdings war ich dabei auf einer Autobahn und fuhr mit 140 km/h in die falsche Richtung. Ich machte einen U-Turn und war eine Weile als Geisterfahrerin unterwegs. Niemand um mich herum verstand, was ich da mache. Und ehrlicherweise verstand ich es selbst auch nicht.


Es brauchte ungefähr zwei Jahre Therapie, um Schritt für Schritt die Worte wieder zu finden, die mir damals so plötzlich abhanden gekommen waren. Britney und Miley waren in der Zeit auch nicht mehr meine Bodyguards. Sie saßen nun zusammen mit mir an einem Tisch und suchten nach den passenden Worten. Durch die Unordnung in meinem Kopf konnte ich mich sowieso nicht mehr um das kümmern, was um mich herum passiert ist. Erst nutzte ich die Worte Anderer, die so ungefähr beschreiben konnten, was in mir vorging. Mit der Zeit fand ich dann immer mehr von meinen eigenen Worten zurück.


Die ganze Situation hatte mich damals einfach nur überfordert. Wie ein 10.000 Teile Puzzle oder eine mathematische Textaufgabe aus der fünften Klasse. Mein Mathelehrer in der Grundschule schrieb mal in dem Gutachten für die weiterführende Schule, dass ich mit einfachen Matheaufgaben gut klar komme, aber bei schwereren Aufgaben bräuchte ich Hilfe. Faszinierend, dass der Satz heute immer noch zu mir passt. Das eigene Leben neu zu sortieren, ist eine eher schwerere Aufgabe, also holte ich mir Hilfe. Zusammen mit einer professionellen Leute-wieder-zusammen-Flickerin habe ich mir meine Einzelteile angesehen. Wir begannen außen und arbeiteten uns nach innen vor. Dabei haben wir alles hinterfragt: Gehört das Puzzleteil nach außen oder nach innen? Ist es ein Puzzleteil, das zu mir gehört, oder gehört es jemand anderem? Was für ein Motiv puzzele ich gerade? Will ich dieses Motiv puzzeln? Will ich überhaupt etwas puzzeln oder vielleicht lieber etwas anderes machen? Und warum sieht das Wort puzzeln geschrieben so seltsam aus?


Mittlerweile habe ich viele Puzzleteile zusammengefügt und die Teile, die von jemand anderem waren, zur Seite gelegt. Das Puzzle ist noch lange nicht fertig. Wer weiß, vielleicht wird es auch nie fertig werden. Aber ich mag jetzt schon, wie es aussieht, und ich freue mich schon drauf, wenn irgendwann weitere Teile ihren neuen, festen Platz im Gesamtbild finden werden.

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