Hättest du doch was gesagt
- Franzi C
- 7. Nov.
- 5 Min. Lesezeit
Diese und ähnliche Sätze habe ich vor ein paar Jahren von einigen Personen gehört. Beliebt war auch der Satz: „Aber der war doch immer so nett.“ als Antwort auf meine Erzählungen aus der Kindheit. Die Meisten werden wissen, dass man sowas Victim-Blaming (dt.: Opfer-Beschuldigung) nennt. Jetzt ewig darüber zu reden, dass man sowas nicht machen sollte und dass das dem Opfer überhaupt nicht hilft, ist mir aber zu langweilig. Mich interessiert, was dahinter steckt.
Dass ein Opfer beschuldigt wird, passiert in allen möglichen Situationen. Bei Diebstahl („Warum hast du dein Portemonnaie nicht besser versteckt?“), bei Einbruch („Die Tür war ja nicht mal verschlossen, also brauchst du dich auch gar nicht wundern.“), bei sexueller Belästigung („Was hattest du an, als es passiert ist?“), bei Gewalt in der Partnerschaft („Du hättest ja gehen können, wenn es wirklich so schlimm war.“) und sogar bei Gewalt/Vernachlässigung gegenüber Kindern („Hättest du doch was gesagt.“).
Oft wird dafür als Begründung der Gerechte Welt-Glaube genannt. Dabei wird davon ausgegangen, dass es in der Welt immer fair und gerecht zugeht und keiner guten Person etwas schlechtes passieren würde. Wir alle wissen, dass die Welt nicht gerecht ist, und es gibt niemanden, der das nicht auch schon selbst erlebt hat. Und trotzdem nutzen wir das Rechtfertigung, wenn anderen etwas schlimmes passiert.
Es gibt Momente, in denen ich mich auch über die Ungerechtigkeiten wundere, und es ist vollkommen in Ordnung, wenn man bei solchen schlimmen Geschichten ebenfalls daran zu knabbern hat und nicht versteht, warum ausgerechnet diese Person zum Opfer von z.B. Gewalt geworden ist. Vielleicht ist man dann auch unsicher, hat Angst und sucht nach Erklärungen. Aber das als Erklärung dafür zu benutzen, dass man überhaupt nicht über den Täter redet und stattdessen die Schuld alleine dem Opfer in die Schuhe schiebt, klingt für mich nach einer billigen Ausrede. Die selbsternannte Krone der Schöpfung sollte doch wohl in der Lage sein, erstmal nachzudenken, bevor sie etwas laut sagt und damit z.B. eine gute Freundin verletzt.
Dieses Ablenkungsmanöver lenkt von den Tätern ab. Das absurde ist, dass die meisten Täter früher selbst Opfer von etwas geworden sind und jetzt andere so behandeln, wie sie selbst einmal behandelt wurden. Nach dem Gerechte Welt-Glaube wären diese Täter also ebenfalls selbst Schuld daran, dass sie mal Opfer waren und jetzt Täter sind. Diesen Gedankengang könnte man natürlich ewig weiter spinnen und irgendwann gibt es keine Opfer mehr, sondern nur noch Täter.
Andere reden auch von dem Gesetz der Anziehung, nach dem man selbst dafür verantwortlich, wen oder was man im Leben anzieht. Das bedeutet, wenn man etwas manifestiert, bekommt man es auch - im Guten wie im Schlechten. Dieser Gedanke ist ähnlich wie der Gerechte Welt-Glaube. Er schiebt allein dem Opfer die Schuld und die Verantwortung für alles zu.
Dabei sollte das Gesetz der Anziehung doch auch für die Täter gelten. Denn auch sie haben das Opfer und die Situation angezogen. Sie haben sogar im Fall von Diebstahl, Einbruch und Gewalt damit angefangen, die jeweilige Grenze zu übertreten. Aber auch das scheint niemanden so richtig zu interessieren.
Wenn ich jetzt aber mal fernab von den Logiklöchern und meiner Kritik auf die Sache blicke, glaube ich, die Gedanken und Reaktionen doch verstehen zu können. Solche schlimmen Geschichten lösen viele Emotionen und Gedanken aus, vor allem, wenn sie unseren Freundinnen, Partnern oder Kindern passieren. Wir sehen, wie die andere Person darunter leidet und wünschen uns, ihr helfen zu können. Wir haben vielleicht auch Angst, dass uns das irgendwann auch passiert und wollen das verhindern. Dabei hilft natürlich, wenn das Opfer die alleinige Schuld trägt, denn das würde bedeuten, dass wir diese schreckliche Situation vermeiden können. Es gibt uns ein Gefühl der Kontrolle.
Oft verstehen wir auch gar nicht, wie jemand die eigene Partnerin oder den eigenen Sohn schlagen kann. Und das uns das grundlegende Verständnis für so ein Verhalten fehlt, spricht ja auch für uns. Wir würden sowas niemals tun und können uns auch nicht vorstellen, dass jemand anders das kann.
All die Fragen und Beschuldigungen sind am Ende ja nur der Versuch, den Sinn in einer sinnlosen Geschichte zu finden. Wir wollen, dass alles einen Grund hat und zu irgendwas gut ist. Wir wollen, dass höhere Mächte oder auch nur wir selbst unser Leben steuern und fest im Griff haben.
Wir wollen auch alles und jeden in gut und böse einteilen, deswegen fallen auch Sätze wie: „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Der war doch immer so nett.“ Es ist der Wunsch nach einer einfachen Welt, in der man die guten von den schlechten Menschen leicht unterscheiden kann, weil es ihnen quasi auf der Stirn steht, in welche dieser Kategorien sie gehören.
Zeitgleich haben wir auch ein bestimmtes Bild von uns im Kopf. Wir sind fest überzeugt davon, dass wir geholfen hätten, wenn wir die Vernachlässigung des Kindes mitbekommen hätten. Also reden wir uns ein, wir hätten nichts gesehen, denn dann brauchen wir uns nichts vorwerfen. Aus diesem Selbstbild heraus folgt dann die logische Frage: „Warum hast du denn nichts gesagt?“ Verständlich. Denn wer will sich schon selbst eingestehen, dass man das Kind im Stich gelassen und damit ermöglicht hat, dass das Kind noch länger leiden muss.
Vielleicht kennen wir die Täter auch. Sie sind Teil unserer Familie, unsere Partnerinnen oder unser bester Freund. Zu glauben, dass sie anderen schaden würden, bedeutet auch, wir haben uns in sie getäuscht. Es bedeutet aber auch, dass wir nicht mehr rechtfertigen können, mit ihnen befreundet oder in einer Partnerschaft zu sein. Dabei ist uns diese Person doch so wichtig und wir wollen sie nicht verlieren. Als suchen wir die Schwachstellen in der Geschichte des Opfers und säen Zweifel. Denn diese Zweifel ermöglichen uns die Hoffnung darauf, dass der Täter am Ende vielleicht gar keiner ist.
All das ist menschlich. All das kann ich gut verstehen. Die meisten Gedanken davon hatte ich ja auch selbst schon. Nichts davon kann und werde hier kritisieren. Mein Problem liegt allein in dem Umgang mit all dem. Für die Emotionen und Gedanken können wir nichts. Aber dafür, wie wir damit umgehen, schon. Nicht jede Emotion muss sofort rausgelassen und nicht jeder Gedanke muss laut ausgesprochen werden.
Manchmal hilft es, sich kurz Zeit zu nehmen und darüber nachzudenken, welche Optionen wir haben. Ich habe damit auch immer wieder Probleme. Bis vor ein paar Jahren konnte ich das noch gar nicht. Mein Gegenüber hat ein Gefühl in mir ausgelöst und plötzlich war ich nur noch damit beschäftigt, es wieder los zu werden. Innerhalb von Millisekunden war ich in meinem Gedankenkarussell gefangen, ohne überhaupt zu merken, dass ich da drin stecke. Das Gute ist, wir können lernen, nicht mehr in diese Falle zu tappen.
Vielleicht hilft es auch schon, nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart zu schauen. Solche schlimmen Geschichten sind oft schon längst vorbei, wenn uns die Opfer davon erzählen. Das Geschehene liegt in der Vergangenheit und ist dort unantastbar. Wir können daran nichts mehr ändern. Es ist also im Grunde egal, wer sich wie warum verhalten hat, denn nichts davon lässt sich noch beeinflussen. Was wir aber beeinflussen können, ist, wie wir mit der Person umgehen, die jetzt vor uns steht und uns von ihrer Geschichte erzählt.





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