Klassentreffen
- Franzi C
- 31. Mai 2024
- 3 Min. Lesezeit
Letztes Wochenende war es so weit. Wir hatten ein Klassentreffen. Vor 19 Jahren haben wir die Grundschule beendet. Ich bin jetzt scheinbar in dem Alter, wo man sich regelmäßig mit ehemaligen Mitschüler:innen trifft und über die gute alte Zeit redet. Knapp die Hälfte der Leute war da. Ich gehörte zur anderen Hälfte. Ich war nicht da. Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich hingehe oder nicht. Aber da ich mich kaum noch an meine Kindheit erinnern kann, machte es für mich keinen Sinn, am Treffen teilzunehmen.
Das Ziel von so einem Treffen ist doch, zusammen mit den anderen, mittlerweile erwachsenen Menschen auf die unbeschwerte Zeit zurück zu blicken, sich etwaige kindliche Streiche zu verzeihen und über sie zu lachen. Aber ohne Erinnerungen gibt es für mich nichts, auf das ich zurückblicken kann. Für mich ist da nur ein schwarzes Loch umgeben von dem Gefühl, dass das, was da in der Dunkelheit liegt, eine schreckliche Zeit war, die mich bis heute prägt. Und ich wusste, dass es mir auch nicht helfen würde, den anderen beim Schwelgen in ihren glücklichen Erinnerungen zuzuhören. Mir würde meine Vergangenheit im Kontrast dazu nur noch schwärzer und dunkler vorkommen, als sie es eh schon tut. Ich ging also nicht hin. Es ist nicht so, dass mich meine ehemaligen Mitschüler:innen nicht interessieren. Im Gegenteil. Ich hätte gerne gewusst, was aus den Menschen geworden ist, mit denen ich sechs Jahre lang täglich mehrere Stunden in einem stickigen Klassenraum verbracht habe. Was wurde aus den Einserschüler:innen? Was wurde aus der Zirkustochter? Welchen Beruf hat der Klassenschwarm? Und ziehen sich die Zwillinge immer noch gleich an? All das werde ich wohl nie erfahren. Und das nur, weil mich eine Zeit traurig macht, die für andere schön und unbeschwert war.
Als ich dann am Tag nach dem Klassentreffen die Bilder gesehen habe, fiel mir etwas auf. Auf einem Bild sieht man nämlich immer zwei Dinge: Die Dinge, die darauf abgebildet sind, und die, die es nicht sind. Ich sah auf dem Bild also nicht nur die Leute, die da waren, sondern auch die, die es nicht waren. Und das waren hauptsächlich Leute, von denen ich wusste oder zumindest rückblickend ahnen konnte, dass deren größte Sorge nicht der Mathetest, sondern die Probleme zuhause waren. Ihnen ging es (wahrscheinlich) wie mir.
Natürlich habe ich auch darüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn ich zum Klassentreffen gegangen wäre. Ich glaube, ich hätte den ganzen Abend den anderen dabei zuhören können, wie sie von etwas erzählen, was ich selbst nie hatte. Mir wäre noch mehr aufgefallen, wie sehr sich ihre Realität von meiner unterschieden hat. Und wenn ich von meinen Erfahrungen erzählt hätte, hätten sie mich mit Entsetzen angesehen. Das passiert nämlich immer, wenn ich eine „lustige“ Anekdote von früher erzähle. Der Raum wird ruhig, alle sind überfordert, weil sie nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollen, und irgendwo in der Ferne hört man ein Grillenzirpen. Mich verunsichert die Stille immer, weil ich während des Erzählens vergessen habe, dass meine Vergangenheit eben nicht so normal ist, wie sie sich für mich anfühlt. Unabsichtlich überfordere ich die anderen damit. Und dass, obwohl ich selbst viele Jahre gebraucht habe, um einen Großteil meiner Geschichte zu verarbeiten. Für mich sind die meisten Erinnerungen mittlerweile so normal wie der Gang zum Supermarkt. Und trotzdem würde mich ein Klassentreffen traurig machen. Denn eine scheiß Kindheit macht nicht nur das aus, was passiert ist, sondern auch das, was nicht passiert ist. Ich weiß, was mir passiert ist. Es ist eine überschaubare, wenn auch schreckliche Liste. Aber was mir alles nicht passiert ist, ist noch viel, viel mehr. Das ist eine endlos lange Liste voll mit schönen Dingen, die ich nie erlebt habe. Was das im Einzelnen ist, merke ich besonders im Austausch mit anderen. Oft sind es die kleinen Dinge, die für viele alltäglich und überhaupt nicht spektakulär sind, wie eine Mutter zu haben, die einen morgens wach macht und die Hausaufgaben kontrolliert, oder wie ein Vater der mit einem angeln geht oder Samstags ein Lagerfeuer macht. Nicht zum Klassentreffen zu gehen, ist also eine Art Selbstschutz. Ich möchte nicht wissen, was alles auf dieser Liste ist, denn damit würde ich mich nur unnötig quälen. Ich habe doch so viel Zeit und Kraft gebraucht, um meine Wunden zu heilen. Nun möchte einfach nur nach vorne sehen und an meiner — hoffentlich schöneren —Zukunft arbeiten. Und wenn ich mir meine Gegenwart ansehe, stehen die Chancen dafür ziemlich gut :-)
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