Mein eigener Planet
- Franzi C
- vor 11 Minuten
- 4 Min. Lesezeit
Immer mal wieder stelle ich fest, dass ich die Dinge, die mir passiert sind, auf eine gewisse Art verharmlose. Damit meine ich nicht, dass ich das Verhalten meiner Eltern rechtfertige oder „nicht so schlimm“ finde. Ich meine damit, dass es mir immer noch schwer fällt, das, was mir passiert ist, als das zu benennen, was es war, nämlich verschiedene Formen der Gewalt. Bei anderen habe ich diese Schwierigkeiten interessanterweise nicht. Und ich weiß, es geht nicht nur mir so.
Das scheint so eine gewisse Eigenart von Menschen zu sein, die schlecht behandelt wurden oder immer noch werden. Ich erkenne sofort an den kleinsten Dingen, wenn bei anderen Menschen etwas schief läuft. Innerhalb von Sekunden schaltet sich mein Gerechtigkeitssinn und mein Beschützerinstinkt ein.
Ich weiß einfach, wie es sich anfühlt, wenn man manipuliert, ignoriert oder bestraft wird, obwohl man nichts falsch gemacht hat und einfach nur geliebt und akzeptiert werden möchte. Und ich weiß auch, wie es ist, wenn man damit allein gelassen wird und einem niemand hilft oder zumindest zuhört. Ich kann auch benennen, was falsch läuft, und habe kein Problem damit Wörter wie Vernachlässigung, Gewalt oder Misshandlung zu nutzen, wenn sie denn zutreffen.
Aber aus irgendeinem Grund fühlt es sich komisch an, solche Begriffe für meine Kindheit und meine Erfahrungen zu nutzen. Bei mir habe ich das Gefühl, dass diese Begriffe zu extrem sind. Bei Vernachlässigung habe ich Bilder von Natascha Kampusch im Kopf, die jahrelang in einem Keller eingesperrt wurde und nicht zur Schule gehen durfte, oder von Harry Potter, der nur löchrige und viel zu große Shirts trug und in einem Schrank unter der Treppe schlafen musste, der nicht viel größer war, als das Bett auf dem er schlief.
Da hatte ich es doch viel besser. Mein Zimmer war normal groß und hatte sogar ein Fenster. Meine Shirts hatten meine Größe und auch nicht mehr Löcher als die der anderen Kinder. Ich durfte das Haus verlassen, zur Schule gehen und wurde zuhause auch nie eine billige Haushaltskraft behandelt, so wie Natascha und Harry. Also wäre es doch etwas übertrieben, wenn ich bei mir von Vernachlässigung reden würde, oder?
Nein, wäre es nicht. Meine Shirts waren, genau wie bei Harry, die alten von anderen Kindern und weit weg von dem, was ich gerne angezogen hätte. Um meine Schulbücher und meine Hausaufgaben musste ich mich selber kümmern. Meine Mutter war froh, wenn ich das Haus verlassen habe, weil ich sie dann nicht nerve. Draußen war ich dann meist alleine unterwegs und habe mir von meinem Geld Mittagessen oder Süßigkeiten für meinen nächsten Binge-Eating-Anfall (= viel Essen in kurzer Zeit, ohne aufhören zu können und danach fühlt man sich fett und hässlich) zu kaufen. Ich war zwar keine Haushaltskraft, aber wirklich geredet oder gespielt hat auch niemand mit mir.
Das alles zählt auch als Vernachlässigung, auch wenn mich Markus Lanz noch nicht in seine Sendung eingeladen hat, um mit mir über mein Schicksal zu sprechen, ich keinen eigenen Wikipedia-Artikel habe und meine Geschichte auch noch nicht verfilmt wurde. Und vielleicht ist das Teil des Problems. In Filmen und in der Presse werden eher die Extremfälle gezeigt, also habe ich genau die zuerst im Kopf. Wenn dann meine eigene Geschichte im Vergleich dazu etwas langweiliger ist und von außen nicht so spektakulär aussieht, denke ich, ich wurde ja gar nicht vernachlässigt.
Es gibt aber noch etwas, was meine Wahrnehmung so verschoben hat. Ich habe mich einfach so sehr daran gewöhnt, dass für mich immer strengere oder sogar ganz eigene Regeln galten. Früher war klar, ich darf schlecht behandelt werden, aber die anderen nicht. Was für andere in Ordnung war, war bei mir falsch oder umgedreht. Was bei anderen gut war, war bei mir schlecht. Andere dürfen ihre Emotionen an mir auslassen, aber ich muss meine für mich behalten.
Und so ist es bis heute, wenn auch nicht mehr ganz so stark wie damals. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, denke ich mir, es war logisch und irgendwie auch normal, dass mir das passiert ist. Für mich ist es immer noch selbstverständlich, dass meine Kindheit anders aussah als die der anderen Kinder. So entstand eine seltsame Form der Normalität, die bis heute eben nur für mich gilt. So als wäre ich auf Diät und es ist klar, dass alle anderen Schokolade essen dürfen, aber ich nicht.
Oder um es mit anderen Worten auszudrücken, ich halte mehr aus als andere und deshalb muss ich dafür sorgen, dass es ihnen besser geht und alles auf mich nehmen. Auch das ist natürlich totaler Quatsch. Jede Person kann stark sein und viel aushalten. Niemand sollte Gewalt u.ä. aushalten müssen, aber die Meisten könnten es. Das Gegenteil davon ist das, was mir früher vermittelt wurde. Andere sind schwach und können ihre Probleme nicht alleine lösen, deshalb muss ich es für sie tun und alles Negative für sie abfangen.
Ich hab es also verdient, schlechter behandelt zu werden, was aber gar nicht schlimm ist, denn ich bin ja stärker als andere, also halte ich das auch gut aus. Gleichzeitig bin ich dafür verantwortlich, dass es anderen besser geht als mir. Allerdings ist das alles halb so schlimm, denn es gibt Menschen, denen es noch schlechter geht als mir.
Wer so aufwächst, kann ja gar kein Gefühl für Normalität entwickeln. Man bleibt immer jemand „besonderes“. Es war, als befände ich mich ständig auf einem ganz anderen Planeten als der Rest der Menschheit. Nicht einmal die Erkenntnis, dass ich nicht die Einzige bin, die solche Dinge erlebt hat, hat es geschafft, mich bisher vollständig auf die Erde zurückzuholen. Aber immerhin befinde ich mich mittlerweile schon irgendwo in der Erdumlaufbahn. Von hier kann ich die Normalität bereits mit bloßem Auge erkennen.





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