Warum es in meiner Heimatstadt so dreckig ist
- Franzi C
- 9. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Gerade als ich dachte, ich kann meine Vergangenheit endgültig hinter mir lassen und nur noch im Hier und Jetzt leben, kommt sie wieder um die Ecke. Allerdings anders als erwartet. Momentan gibt es immer wieder Augenblicke, in denen mir Dinge aus der Vergangenheit einfallen. Der Unterschied zu früher ist, dass ich diese Dinge mittlerweile anders bewerte und besser verstehe. Denn mein Blick ist mittlerweile ein anderer. Ich stecke nicht mehr Mitten drin, sondern habe eine Distanz dazu.
Es ist die Distanz, die entsteht, wenn man mit einer Sache abgeschlossen hat. Genauso wie man am Ende eines Films merkt, welche Hinweise darauf, wer der Bösewicht ist, man die ganze Zeit übersehen hat. Rückblickend versteht man einige Szenen viel besser. Man versteht auch, dass die Person, bei der man die ganze Zeit ein komisches Gefühl hatte, in Wahrheit unschuldig ist und man ihr Verhalten einfach falsch interpretiert hat. Dasselbe gilt auch umgekehrt, die Person, von der man dachte, sie kämpft für das Gute, ist in Wirklichkeit die Strippenzieherin hinter allem Bösen.
Jetzt, wo mein Heilungsprozess „zu Ende“ ist und der Abspann läuft, verstehe ich einige Dinge nochmal besser. Ich sehe und verstehe jetzt erst, wie lang mein Weg war, wie viele Hindernisse ich hatte und wie oft ich kurz davor war aufzugeben. Ich sehe aber auch alles, was mir den Weg erleichtert hat, und wer mich in der ganzen Zeit begleitet hat und wen ich auf dem Weg hierhin verloren habe. Ich sehe, was für eine unglaubliche Leistung es von mir war, hier anzukommen.
Ich verstehe jetzt auch, dass ich all das, was mir in meiner Kindheit passiert ist, nicht verdient habe. Versteht mich nicht falsch. Im Kopf habe ich das die letzten Jahre auch schon gewusst, aber ich habe es nicht gefühlt. Ich habe nur gefühlt, wie sehr mich das Verhalten meiner Eltern verletzt hat. Ich habe gesehen, was es mit mir gemacht hat, und habe beschlossen, dass sich nie jemand wegen mir so fühlen soll. Was jetzt neu ist, ist das Mitgefühl für mich selbst bzw. für das kleine Mädchen, was damals nur geliebt werden wollte und was es auch verdient hätte, täglich mit Liebe überhäuft zu werden.
Genau wie ich immer wusste, dass meine Eltern ihre Emotionen bei mir abgeladen haben. Der einzige Weg für sie mit Angst, Wut, Frust, Schuld u.ä. umzugehen, war, ihnen und mir einzureden, ich hätte irgendwas falsch gemacht und dann wütend auf mich zu werden. Vor kurzem kam mir dann die Erkenntnis, dass das Schlimmste, was meine Eltern in den letzten Jahren erlebt haben, mein Kontaktabbruch zu ihnen war. Und das nicht, weil sie mit mir einen geliebten Menschen verloren haben. Nein. Meine Eltern wollten mich nie und das haben sie mir auch jeden Tag gezeigt. Und was mir passiert ist, tut man niemandem an, den man wirklich liebt. Ich glaube eher, dass sie froh sind, mich endlich los zu sein.
Was für sie schlimm daran ist, ist, dass sie niemanden mehr haben, an denen sie ihre Emotionen auslassen können. Sie geben mir wahrscheinlich immer noch die Schuld für alles, aber sie sind jetzt alleine mit ihren Gefühlen. Sie können damit nirgendwo hin. Ich weiß gut, wie sehr es einen von innen zerfrisst, wenn man so viele Gefühle hat, aber nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen soll.
Ich habe trotzdem kein Mitleid mit ihnen, denn sie hätten, genau wie ich es irgendwann getan habe, sich selber hinterfragen und Hilfe suchen können. Aber ich verstehe, wie sie sich fühlen.
Mein Eindruck hat sich letztes Wochenende nochmal bestätigt, als ich zum ersten Mal nach drei Jahren meinen Vater auf einer großen Familienfeier gesehen habe. Wenn ich die Blicke richtig gedeutet habe, dann hat es ihn sehr beschäftigt, dass ich mir seine Emotionen nicht mehr zu eigen mache, sondern mich stattdessen um mich kümmere und mein Leben lebe. Ich mache das, was er und meine Mutter nie geschafft haben. Ich lasse die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein, anstatt die ganze Zeit bockig in der Ecke zu stehen, weil irgendwann irgendjemand mal gemein zu mir war und das jetzt die Entschuldigung dafür ist, mich nicht weiterentwickeln zu müssen und andere verletzen zu können.
Ich habe auch verstanden, dass das Verhalten der anderen nichts mit mir zu tun hat und ich sowohl früher als auch jetzt nicht verantwortlich dafür bin, ob und wie andere mit ihren Problemen umgehen. Versteht mich nicht falsch. Wenn jemand zu mir kommt und mich nach Hilfe fragt, werde ich versuchen, zu helfen. Aber wenn mir jemand vor die Füße kackt und erwartet, dass ich seinen Scheißhaufen wegmache, dann werde ich einfach weitergehen.
Ich bin stolz auf diese Scheiß-egal-Haltung, denn schließlich habe ich sie mir hart erarbeitet. Sie ist das Ergebnis von viel Zeit, Arbeit, Tränen und Antidepressiva. Es hat mich in den letzten Jahren immer wieder erstaunt, wie wenig mich eigentlich etwas angeht und in meinem Verantwortungsbereich liegt. Denn etwas wird nicht automatisch zu meiner Aufgabe, nur weil jemand es behauptet oder sich weigert, die Aufgabe selbst zu machen.
Mein ehemaliger Geografie-Lehrer hatte mal scherzhaft gefragt, warum es in meiner Heimatstadt so sauber ist. Seine Antwort: Weil Franziska sich um jeden Dreck kümmert. Heute müsste er fragen, warum es in meiner Heimatstadt so dreckig ist. Und meine Antwort wäre: Weil Franziska mittlerweile woanders wohnt und sich nur noch um ihren eigenen Dreck kümmert!
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