Wie viele bin ich und wenn ja, warum?
- Franzi C
- 7. Feb.
- 3 Min. Lesezeit
Von außen bin ich - wie die Meisten - erstmal nur eine Person. Aber innerlich sieht das Ganze schon etwas anders aus. An guten Tagen bin ich jemand anders als an schlechten. Bei fremden bin ich jemand anders als bei Freunden. In Gegenwart von Kindern verhalte ich mich anders als in der von Erwachsenen. Also stellt sich doch die Frage: Wie viele Menschen bin ich überhaupt? Und warum?
Jonathan Decker, ein Familientherapeut aus den USA, sagte mal: „You are the sum total of the five people you spend the most time with.“ (= dt.: Du bist die Summe der fünf Menschen, mit denen du am meisten Zeit verbringst.) Hape Kerkeling meinte in seinem Film Der Junge muss an die frische Luft, er sei seine Eltern, seine Tanten, die Kuh auf der Wiese und das Gras am Wegesrand. Die Liste seiner Einzelteile wäre demnach unendlich lang. Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo zwischen fünf und unendlich.
In mir sind Teile meiner Eltern, meiner Großeltern und dem Rest der Familie. In mir sind natürlich auch Teile meiner Freunde, meiner Therapeutin und meiner früheren Lehrerinnen, aber auch Teile des alten Ehepaars, mit denen ich vor einigen Jahren in Paris einen Abend verbracht und danach nie wieder gesehen habe. Und genauso sind in mir Teile von fiktiven Figuren wie Matilda und der Hälfte des Harry Potter-Universums.
Und alle diese Anteile haben unterschiedliche Aufgaben. Meine Familie markiert die Startlinie, von der ich vor 31 Jahren losgelaufen bin. Sie war damals der Keim in der Erde, aus dem der Baum entstanden ist, der da jetzt steht. Die fiktive Welt hat immer Verständnis für mich und sie zeigt mir, dass immer noch mehr möglich als das, was ich gerade in der Realität vor mir sehe. Sie ermöglichte mir schon als Kind, zu hoffen und zu wünschen. Ich wünschte mir damals, dass ich irgendwann richtig tolle Menschen kennenlerne und ein Leben führen kann, dass zu mir passt. Meine Freundinnen und ehemalige Dozenten sind die wahr gewordene Hoffnung auf eben diese tollen Menschen. Sie sind auch ein Abbild dessen, wo ich gerade stehe. Von hier aus kann ich mit ihnen zusammen nach hinten sehen und mir bewusst machen, wie weit ich mittlerweile von der Startlinie entfernt bin. Der Teil meiner Therapeutin hilft mir, meine ganzen anderen Anteile zu moderieren. Vor allem dann, wenn die Teile meiner Eltern Überhand nehmen und mir dementorenähnlich jedes Glück aus dem Körper saugen wollen.
Bleibt noch die Frage nach dem Warum. Nun, das genaue Warum bleibt natürlich das Betriebsgeheimnis von meiner Therapeutin und mir. Aber es ist kein Geheimnis, dass wir alle zuerst unsere Eltern kopieren. Als Kinder lernen wir, zu laufen, zu denken und zu sprechen wie sie. Je mehr Menschen wir dann im Laufe unseres Lebens kennenlernen, desto mehr Alternativen sehen wir auch. Wir treffen auf Menschen, die andere Werte haben, einen anderen Dialekt oder sogar eine andere Sprache sprechen als wir. Dann können wir uns entscheiden, ob wir an der ersten Version von uns festhalten oder ob wir sie (und damit auch uns) verändern.
Und auch unsere inneren Stimmen sind von unseren Eltern geprägt. Erst sind es nur sie, aber dann werden es immer mehr, bis es irgendwann zwischen fünf und unendlich viele sind. Manchmal widersprechen sich diese Stimmen oder reden wirr durcheinander. So ein Chaos zu moderieren, kann durchaus anstrengend werden und diese Widersprüche muss man aushalten können. Aber jede Stimme bringt am Ende auch ihre eigene Perspektive mit.
Schulz von Thun nennt diese Stimmen das innere Team. Wie bei einer Teamsitzung sitzen die verschiedenen Anteile am Tisch und diskutieren. Normalerweise hat jeder Mensch auch einen inneren Chef, der dann bestimmt, welche Stimme die sinnvollste - oder manchmal auch einfach nur die lauteste - ist. Die hat dann das Sagen und bestimmt, wer wir heute sind.
Bevor ich meine Therapie begonnen habe, herrschte pures Chaos an meinem inneren Konferenztisch. Damals hat immer nur die schnellste und lauteste Stimme diktiert, wo es lang geht. Und wir wissen alle, dass die Lautesten nicht automatisch auch die Vernünftigsten sind. Wenn es dann zu Problemen kam, wurden diese lauten Stimmen auch noch panisch. Dass ein lautes und hektisches Durcheinander keine guten Lösungen produziert, muss ich, glaube ich, jetzt nicht extra erwähnen.
Mittlerweile ist zum Glück Ruhe eingekehrt. Die lauten Stimmen sind leiser geworden und haben nur noch selten das Sagen. Stattdessen sitzt meine innere Chefin wieder am Kopfende des Tisches und sorgt dafür, dass die leisen, vernünftigen Stimmen zu Wort kommen. Was sie zu sagen haben, passt auch mehr zu der Person, die ich aktuell sein möchte. Die lauten Stimmen von früher waren irgendwann nur noch wie zu kleine Schuhe. Die gingen schon irgendwie, aber so richtig gepasst haben sie nicht mehr.
Wer ich also gerade bin, ist aber immer noch von Tag zu Tag, sogar von Situation zu Situation verschieden. Und das ist auch gut so. Aber immerhin passen diese verschiedenen Ichs jetzt zu mir und zu dem ich, was ich jetzt und in Zukunft sein möchte.
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